The Chronicles of Chaos

Kreativität zeigt sich auf unterschiedliche Arten und Weisen. Aber einen ganzen Roman zu schreiben, wagen nur die Wenigsten.

Dass Menschen aus dem Computerspiel-Umfeld zur Feder greifen, ist in den letzten Jahren häufiger geschehen. Zum Beispiel hat Ken Williams eine höchst eigenwillig geschriebene Firmengeschichte von Sierra On-Line auf den Markt gebracht. Oder Tony Warriner schrieb seine Erinnerungen rund um die Baphomets Fluch-Reihe und alles drumherum nieder. Dass aber ein Games-Designer einen Roman schreibt, ist selten. Und dass er gleich eine vierteilige Reihe daraus macht, ist mir vor den Chronicles of Chaos noch nicht untergekommen. Glen Dahlgren hat dies einfach mal gemacht – auch wenn es über zwanzig Jahre gedauert hat.

Der Ursprung

Der ursprüngliche Kern der Bücher entstand während der Entwicklung des Computerspiels The Wheel of Time, an dem Dahlgren für Legend Entertainment arbeitete. Während der turbulenten Entwicklungsphase suchte die Firma einen Publisher für das Spiel. Activision war zwar interessiert, wollte aber die Lizenz nicht haben und bat um ein alternatives Konzept. Quasi über Nacht erfand Dahlgren eine eigene Welt, in die das Spiel passen würde. Letzten Endes übernahm statt Activision GT Interactive den Vertrieb (und später die ganze Firma), die eigene Spielwelt war vom Tisch und das Rad der Zeit wieder die zentrale Lizenz.

Auch wenn einige Elemente wie die großen Tempelanlagen oder die Verbindung der Menschen mit den Göttern noch auf den benötigten Spiele-Ursprung hindeuten: Die späteren Romane haben nichts mehr mit dem Computerspiel zu tun. Im Gegenteil: Dahlgren klopfte nach Ende der Entwicklung seine eigene Welt auf die Möglichkeit eines Spiels ab, allerdings drängte sich eher ein Roman auf, der in dieser Welt spielen könnte. Im Laufe der nächsten 20 Jahre arbeitete er während der Pause zwischen zwei Spielen immer mal wieder an dem ersten Buch The Child of Chaos. Die nächsten drei Bände haben zum Glück nicht so lange auf sich warten lassen, so dass seit dem 27. Februar 2024 die ganze Reihe in einem Rutsch gelesen werden kann.

Leider sind die Bücher nur auf englisch erhältlich. Sie sind zwar leicht verständlich geschrieben und werfen nicht alle zwei Seiten mit erfundenen Fantasy-Vokabeln um sich, aber auf Deutsch hätte ich sie auch gerne gelesen. Eine Übersetzung ist derzeit allerdings nicht geplant.

The Child of Chaos (2020)

Die Welt der Romane ist feudal aufgebaut: Große Teile der Bevölkerung zahlen regelmäßig Abgaben an die Priester der unterschiedlichen Götter. Wer diese Abgaben nicht bezahlt (ob aus Unwillen oder fehlenden Mitteln), wird bestraft und im härtesten Fall als Sklave in den Tempel des Bösen verschleppt. Wobei “Böse” ebenso wie zum Beispiel “Krieg” oder “Wohltätigkeit” personifizierte Götter sind, die ihren Priestern magischen Kräfte verleihen. Die einzige Möglichkeit, aus der arbeitenden Bevölkerung aufzusteigen und in den Priesterrang aufzusteigen, ist “The Longing”.

Diese “Sehnsucht” zeigt sich bei berufenen Menschen früh und wird immer drängender. Sie zieht den Menschen zu dem Ort, an dem sich ihr jeweiliger Gott in Gestalt eines Geschenks an die Menschheit personifiziert hat: einem Tempel. Regelmäßig melden sich Kinder, die diese Sehnsucht spüren (ob nun tatsächlich oder aus Verzweiflung, um der Armut zu entkommen). Gegen eine Gebühr für den Tempel dürfen sie sich testen lassen und sind im besten Falle nach der Prüfung Priester – im anderen Fall können sie sich eventuell bei einem anderen Tempel für einen anderen Gott erneut gegen Gold testen lassen. Selbst aus der Verzweiflung der Menschen pressen die Tempel also noch Reichtümer.

In The Child of Chaos treffen wir Galen und seine Schwester Myra, die sich gemeinsam mit anderen Kindern von Priestern der Wohltätigkeit testen lassen wollen. Während Myra alle Anzeichen des Longings zeigt, möchte Galen einfach nur seinem Schicksal als zukünftiger Fischer entkommen. Er ist ein Junge, der lieber in Geschichten flüchtet und träumend Abenteuer erlebt. Dass er nicht zum Priester dieses Tempels berufen sein wird, ist ihm an und für sich schon klar – und auch Horace, der bullige und bösartige Junge, der mit ihm getestet wird, wird wohl scheitern. So gesehen ein Prüfungstag wie viele andere. Was aber durch Galens Prüfung in Gang gesetzt wird, wird die Welt verändern.

The Game of War (2021)

Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Erst recht, wenn man als Autor immer wieder mal neu an einem Roman arbeitet. Dahlgren hatte als großes Ziel, The Child of Chaos zum Abschluss zu bringen und plante erst einmal nur dieses eine Buch. Vermutlich deshalb gönnte er dem Band auch ein fulminantes Finale, das auch gut und gerne die Reihe hätte beenden können. Um den Band zu bewerben, wollte Dahlgren eine Kurzgeschichte rund um eine beliebte Figur schreiben – aber es stellte sich heraus, dass er für das Format nicht geschaffen ist und so wuchs Game of War zu einem vollständigen Roman heran.

Dahlgren griff sich mit dem Kriegspriester Dantess eine Figur aus The Child of Chaos heraus und erzählt hier ihre Vorgeschichte. Schon früh von der Gottheit War und ihrem Tempel beeindruckt, versucht er alles, um möglichst schnell dort aufgenommen zu werden. Sein Vater dagegen möchte dies mit allen Mitteln verhindern. Warum dies so ist, wird im Roman ebenso erzählt wie auch die Intrigen innerhalb der Priesterschaft. Natürlich treffen wir hier keine Figuren aus The Child of Chaos wieder, aber dafür führt Dahlgren eine ganze Reihe neuer interessanter Charaktere ein, so dass ich Galen und seine Freunde überhaupt nicht vermisst habe.

Als ich zuerst davon hörte, dass eine zwar recht wichtige, aber nicht im Mittelpunkt stehende Figur wie Dantess im Fokus des Romans stehen würde, war ich mir unsicher, was das wohl werden würde. Es stellte sich heraus: etwas Gutes. Ausgehend von Dantess’ Jugend geht es natürlich viel um seine Ausbildung im Tempel. Aber im Mittelpunkt stehen Beziehungen. Familie und Freunde, Feinde und Vorgesetzte. Glen Dahlgren selbst empfiehlt, mit The Game of War zu beginnen – ich habe die hier dargestellte Reihenfolge gewählt und war trotzdem gut unterhalten. Wie so vieles im Leben ist dies Geschmackssache.

The House of Prophecy (2022)

Dieser Band ist die direkte Fortsetzung von The Child of Chaos, profitiert aber sehr von den Geschehnissen aus The Game of War. War der Debütroman bei aller Erzählfreude viel damit beschäftigt, die Welt und ihre Funktionsweise zu etablieren, so brachte das Prequel viel mehr Figuren-Geschichte in Dahlgrens Welt mit ein, aus der er nun genussvoll schöpft. Daher tauchen hier viele Figuren aus The Game of War wieder auf, nachdem sie bei The Child of Chaos geschwänzt haben.

Die Ereignisse des ersten Buchs haben Spuren in der Welt hinterlassen und jeder Mensch ist auf seine Weise damit beschäfigt, in der neuen Realität seinen Platz zu finden. Einige versuchen, diese neue Wirklichkeit zu ignorieren, andere wollen daraus Profit schlagen, wieder andere wollen Macht oder einfach nur überleben. Wie die Gesellschaft damit umgeht, dass ihre Grundfesten nicht nur erschüttert, sondern zerstört wurden, beschäftigt den Leser von der ersten bis zur letzten Seite.

The Realm of Gods (2024)

Im Finale der Chronicles of Chaos laufen natürlich viele Fäden zusammen. Auf wieder ungefähr 370 Seiten wird die Welt ein weiteres Mal auf den Kopf gestellt. Und zwar (und das ist die Kunst) ohne dass der Leser sich veralbert vorkommt. Die bisherigen Ereignisse münden logisch in das Ende von Realm of Gods, ohne dass ein obskures, bisher verborgenes Handlungselement dies möglich machen muss. Stattdessen schöpft Dahlgren alle Möglichkeiten aus, die er geschaffen hatte – und selbst eine Figur aus Child of Chaos, die ich komplett vergessen hatte, wird hier passend eingebunden.

Wie schon bei den anderen Büchern verrate ich hier keine Geheimnisse oder die Handlung. Die Geschichte wird nochmal ein wenig düsterer und blutiger. Klar, da immer mehr auf dem Spiel steht. Für den Abschluss der Reihe überraschend bietet das Ende Möglichkeiten für weitere Geschichten. Im Gegensatz zu Douglas Adams, der in Mostly Harmless alles versucht hat, um eine weitere Fortsetzung unmöglich zu machen, scheint Glen Dahlgren von seiner Welt noch nicht genug zu haben. Gut so.

Meine Meinung

Fantasy-Romane waren eine meiner ersten literarischen Leidenschaften. Als Jugendlicher und junger Erwachsener habe ich alles aus diesem Genre gelesen, das mir in die Finger kam. In späteren Jahren wirkte diese Richtung aber ausgereizt. Die immer gleichen Geschichten wurden mit den immer gleichen Figuren neu erzählt. Mittlerweile hat sich das zum Glück geändert und viele unterschiedliche Ansätze sind auf dem Markt vertreten. Es muss nicht immer die Schlacht der fünf Heere sein, um mich emotional zu packen. Kleinere, emotionale Geschichte sind in der Fantasy mittlerweile ebenso zuhause.

Glen Dahlgren wählt mit seinen Chronicles of Chaos einen Mittelweg: Die Welt bleibt realistisch “klein”. Selbst große Heere reichen nicht bis zum Horizont. Die größte Sorge der Menschen ist, dass am nächsten Tag das Essen nicht mehr reicht. Und trotzdem ist die Geschichte groß genug, um jeden Bewohner dieser Welt auf eine Seite zu zwingen.

Diese Buchreihe ist für Jugendliche geschrieben worden. Vor dem Phänomen “Harry Potter” bedeutete dies automatisch, dass Erwachsene solche Bücher eher links liegen lassen. Mittlerweile besteht die Hälfte der Bestsellerliste aus solchen Titeln (die andere Hälfte sind fast immer Krimis) – und die Kundschaft kommt aus allen Altersschichten. Wer also Lust auf gute Fantasy hat, die nicht in Klischees versinkt, sollte diesen Büchern eine Chance geben. Ich wurde hervorragend unterhalten und hoffe auf weitere Bücher von Glen Dahlgren.

Bestellbar sind die Titel in Deutschland derzeit nur bei Amazon: Child of Chaos, Game of War, House of Prophecy und Realm of Gods. Dort sind sowohl die gebundenen Ausgaben, die Taschenbücher als auch die von Glen Dahlgren selbst eingesprochenen Hörbücher zu finden.

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Über Jürgen

Geschichts- und Musik-Liebhaber mit einer Schwäche für viel zu lange Computerspiele. Der Werdegang CPC - Pause - PC und Konsolen sorgt dafür, dass ich noch so viele schöne alten Perlen entdecken darf.

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10 Comments on “The Chronicles of Chaos”

  1. Noch eine Fantasyreihe hätte ich jetzt nicht gebraucht (bin mit Midkemia von Feist noch ausgelastet), daher habe ich den Artikel erst nur geskippt. Dann bin ich aber bei ein paar Passagen beim Interview hängen geblieben und Lust bekommen, den ganzen Artikel zu lesen. Daumen hoch!

    1. Vielen Dank, das freut mich.
      Die Chronicles of Chaos wären mit ihren insgesamt 1400 Seiten für dich dann ja nur ein kleiner Snack 🙂 Auch das ist ein Aspekt, der mir sehr gut gefällt. Klar hoffe ich auf Fortsetzungen, aber das Werk ist in seiner Größe beherrschbar. George R.R. Martin hätte auf den paar Seiten gerade mal zwei Hauptcharaktere um die Ecke gebracht.

      1. Haha, kleiner Snack! Von der Midkemia-Reihe gibt es zwar zig Bücher, allerdings habe ich mir nur 9 rausgegriffen (inkl. Betrayal at Krondor). Demnächst fange ich mit dem 6. Band an. Ok, stimmt, das sind auch ca. 4500-5500 Seiten. Ich lese die Bücher immerhin auf deutsch, in englischer Sprache würde ich wahrscheinlich nicht so „schnell“ vorankommen.

      2. Hab jetzt richtig Bock bekommen! Danke dafür! Möchte diese Serie als nächstes Fantasy-Epos lesen! Auf Kindle ist es ja sogar recht günstig. Danke für den tollen Werbe-Artikel! 🙂

        1. Das freut mich sehr. Meine Tochter holt sich Stück für Stück die Hörbücher, die Glen ja selbst eingesprochen hat und ist auch sehr glücklich damit.

          1. Stimmt, das wäre noch faszinierender. Vielleicht mache ich das auch. Hört sie das über Audible oder wie kommt sie an die Hörbücher?
            Allerdings fehlt mir hier in der Großstadt die Ruhe dazu. Lesen kann ich abends im Bett, aber beim Hören und vor mich hinstarren würde ich wahrscheinlich schnell einschlafen. 😉

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