Jahrelang lieferte Sid Meier für MicroProse Flugsimulationen und Strategiespiele erster Güte ab. Doch erst mit Civilization wurde er auch außerhalb der Spieler-Blase so berühmt, dass sich die ganze Welt zu fragen schien: “Was macht Sid als Nächstes?”
And Now for Something Completely Different
Das fragte sich der Designer auch selbst. Betrachtet man sein Schaffen von heute aus, folgt natürlich drei Jahre später das hervorragende Colonization, mit dem Meier sich weiter im Strategie-Genre tummelte. Doch zwischen diesen beiden Meilensteinen schuf Sid Meier zusammen mit Jeff Briggs ein faszinierendes Stück Software, das so weit weg wie möglich von allem war, was von MicroProse und Sid Meier erwartet wurde: C.P.U. Bach. Aus Sicht des Designers war diese Wahl allerdings gar nicht so ungewöhnlich, war Musik doch schon seit vielen Jahren elementarer Bestandteil seines Lebens. In seiner Autobiographie Sid Meier’s Memoir schreibt er darüber, dass er gemeinsam mit seiner Schwester von einem Nachbarn Geigen-Unterricht bekam. Eine gewisse Begabung schien den Geschwistern auch in die Wiege gelegt worden zu sein, durften sie doch bald bei einem Konzert der High School auftreten. Meiers Erinnerung nach fiel die Aufführung nach der Hälfte des Stücks in sich zusammen und die beiden wurden nie wieder eingeladen, aber er blieb weiter motiviert und bereitete sich für ein größeres Vorspiel vor. Er wollte in das Jugendorchester der Detroit Symphonic aufgenommen werden.
Um zu glänzen, suchte er sich ein Stück aus, das am oberen Rand seiner damaligen Fähigkeiten lag: Johann Sebastian Bachs Doppelkonzert für zwei Violinen in d-moll (BWV 1043). Vom ersten Moment an faszinierte ihn die barocke Komposition: Die Musik wirkte gleichzeitig überraschend und doch unausweichlich, schreibt er. Gleichzeitig entdeckte er in einem Buch über die Harmonielehre, welche Regeln hinter Musik stecken. Wie auch andere technisch oder naturwissenschaftlich interessierte Menschen, begeisterte ihn die strikte Ordnung hinter der Schönheit. In seinem Buch schreibt er: “Urplötzlich vereinten sich meine zwei Welten, da hier erklärt wurde, wie Musik mathematisch verstanden werden kann.” Um die Harmonien des Buchs nachvollziehen zu können, wechselte Meier das Instrument und tauschte Violine gegen ein elektrisches Wurlitzer-Klavier, das er ein paar Jahre später gegen einen Polymoog auswechselte. Er stieg bei einer halbprofessionellen Coverband namens “Fragile” ein und spielte auf jeder Art Feierlichkeit Popsongs. Doch seine Liebe für Bachs Musik blieb bestehen.
Der Name des Programms ist übrigens leicht doppeldeutig. Zum einen spielt er natürlich auf den “Komponisten”, eben die in der Konsole verbaute CPU an, zum anderen wurden auch einige Bach-Söhne selbst mehr oder weniger erfolgreiche Komponisten. Carl Philipp Emanuel (oder kurz C.P.E. – ah jetzt ja!) Bach, zweiter überlebender Sohn von Johann Sebastian, war als Hofmusiker bei Friedrich II. zu Lebzeiten weitaus erfolgreicher, als es sein Vater jemals gewesen ist – und damit ein hervorragend geeigneter Mit-Namensgeber dieser Kompositions-Software. Darüber hinaus verdanken wir ihm einen großen Teil der heute noch überlieferten Werke seines Vaters. Sein älterer Bruder Wilhelm Friedemann Bach soll zum Beispiel seinen Anteil an den vererbten Werken des Vaters aus Armut verkauft haben. Was genau verloren ging, können wir natürlich nicht wissen, aber allein an Kantaten dürfte rund ein Drittel verloren sein, ebenso gab es neben der Johannes– und der Matthäus-Passion noch mindestens die Markus-Passion aus Bachs Feder, aber hier ist nur der Text überliefert. Dagegen gilt die lange Zeit ihm zugeschriebene Lukas-Passion mittlerweile nicht mehr als sein Werk. In seiner Autobiographie stellt Sid Meier es so dar, als wäre dieser Verlust von vielen potentiellen Meisterwerken mit ein Auslöser für C.P.U. Bach gewesen. Ihm war klar, dass er nicht Bachs Genie zurückbringen konnte. Aber er konnte das relativ strenge Kompositions-Regelwerk des Barock nutzen, um ähnliche Musik immer wieder neu zu erzeugen.
Das Programm beginnt mit einer schönen Kamerafahrt über ein Tasteninstrument, in dessen Inneren statt Saiten allerlei Computer-Bauteile verbaut sind. Dann blendet die Ansicht um und zeigt Johann Sebastian Bach an einer riesigen Orgel sitzend. Zu den Klängen der Toccata und Fuge in d-moll werden die beteiligten Programmierer eingeblendet – und dann berechnet C.P.U. Bach direkt die erste Komposition. Das ist auch schon der vollständige Inhalt. Wenn der Anwender vor dem Bildschirm keine Vorgaben macht, erzeugt ein Zufallsgenerator immer wieder neue Kombinationen. Beeinflussen lässt sich der digitale Bach nur über Menüs, in denen wir die Art der Komposition und der Besetzung auswählen können. Allerdings auch nur indirekt: Erhöhen wir den Flöten-Anteil bei Concertos signifikant, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass die Flöten tatsächlich eingesetzt werden. Denn wie jeder andere Komponist lässt sich C.P.U. Bach nur ungern in seine Werke reinreden.
Patente Technik
Technische Grundlage von C.P.U. Bach ist die 3DO-Konsole, die 1993 erschien. Mit gerade einmal 2 Millionen verkauften Exemplaren ist die Konsole heutzutage eine Fußnote der Geschichte, aber damals galt sie als Schritt hin zu multimedialen Anwendungen und Full-Motion-Video-Spielen. In der überschaubaren Liste an erschienenen Spielen tummeln sich Titel wie Blue Chicago Blues oder Dennou Hyouryuu: Multimedia Cruising neben Mega Race oder auch Return to Zork. Allen Spielen gemeinsam ist die Opulenz in der Darstellung. Bild und Ton waren dem durchschnittlichen PC definitiv voraus – und vor allem war die verbaute Hardware (im Gegensatz zum PC) in jedem Gerät gleich. Genau die richtige technische Grundlage für das, was Sid Meier darstellen und vor allem erklingen lassen wollte.
Wie funktioniert das Ganze aber denn eigentlich? Diese Frage lässt sich bei C.P.U. Bach recht einfach – und gleichzeitig ausführlich – beantworten. Denn Sid Meier und Jeff Briggs haben unter der Nummer US5496962A ein Patent namens “System for real-time music composition and synthesis” angemeldet. Die Essenz ist eine “gewichtete Suche”:
Im Allgemeinen beinhaltet das Verfahren der “gewichteten erschöpfenden Suche” die Erstellung einer Vielzahl von Lösungen für die Herstellung jedes Elements der Zusammensetzung. Jede dieser Lösungen wird anhand einer Reihe von “Fragen” analysiert. Jede Lösung wird dann danach bewertet, wie jede Frage “beantwortet” wird oder wie sehr die jeweilige Lösung den Parametern der Frage entspricht. Der Prozess der Bewertung jeder Lösung auf der Grundlage von Fragen wird sowohl auf der Mikroebene “Note zu Note” als auch auf der Makroebene “Satz zu Satz” angewandt, wobei für jede Ebene ein anderer Satz von Fragen oder Parametern verwendet wird.
Vereinfacht gesagt: Nachdem die Art der Komposition vorgegeben wird, arbeitet C.P.U. Bach ein Regelwerk ab. Passt die nächste erzeugte Note zu diesen Regeln? Und passt das ganze erzeugte Thema zu den übergreifenden Leitlinien? Im weiteren Patent-Text führen die beiden Autoren auch einige Regel-Beispiele für Bachs Musik auf:
- Noten, die länger als die letzte Note sind und nicht zum aktuellen Akkord gehören, werden verworfen.
- Zwei Sprünge in dieselbe Richtung sind verboten, es sei denn, alle Noten befinden sich im Akkord.
- Lieber kleine Schritte als große Sprünge
- Wenn die ersten Note eine Sechzentelnote ist, ist ein Schritt gefolgt von einem Sprung in dieselbe Richtung verboten.
Dieses Korsett an Regeln darf aber auch mal gesprengt werden. “Lieber kleine Schritte als große Sprünge” bedeutet eben auch, dass das Programm in seltenen Fällen diesen großen Sprung doch erzeugt und dieser “Fehler” in der Musik bleibt. Wie auch Bach immer wieder Noten notiert, die nicht zum barocken Kompositions-Verständnis passen.
Das Patent-Dokument führt die Konsequenzen seiner Regeln und die Durchführung der Komposition im Weiteren ausführlich aus und fügt auch sieben Diagramme hinzu, die die Grundlagen verdeutlichen. Faszinierende Einblicke, aber auch sehr kleinteilig beschrieben. Für Interessierte lohnt sich ein Blick allemal. Wer bewegte Bilder bevorzugt: In einem kurzen Videointerview erzählt Meier Dr. John Q. Walker und Dr. Anatoly Larkin ein wenig über die Entstehung des Programms und führt auch einige Szenen vor.
Der Konzertsaal
Die erzeugten Konzerte unterlegt das Programm auf Wunsch mit unterschiedlichen Darstellungsformen: Während die Musik läuft, blendet C.P.U. Bach zum Beispiel auf Wunsch eine Diashow ein. Leider passen die Bilder nicht immer zu der gewünschten Stimmung. Ob zum Beispiel ein Strandbild der 1980er- oder 1990er-Jahre passend gewählt ist, möchte ich infrage stellen. Dann wieder gibt es schöne alte Gebäude oder Naturbilder. Nun, Untermalung eben.
Zwei weitere Darstellungs-Modi wirken wie Vorläufer von Winamp-Untermalungen: Passend zur Musik tanzen geometrische Formen um den Bildmittelpunkt. Der einzige Unterschied zwischen den beiden Varianten ist der Wildheits-Grad, da sich das Ganze noch in moderatem Tempo um den Mittelpunkt kreiseln lässt. Weiterhin stellt das Programm auf Wunsch die erzeugten Melodien auch in Notenform dar und bietet erläuternden Text, der das Gehörte erklärt. Was ist ein Thema? Was ein Kontrapunkt?
Der letzte Modus stellt Johann Sebastian Bach selbst dar. Je nach errechneter Musik steht oder sitzt der Komponist an einem Solo-Instrument wie einem Cembalo oder einer Flöte und musiziert. Im Hintergrund sind die restlichen Instrumente dargestellt – allerdings ohne den sie spielenden Menschen. Die Bewegungen sind natürlich nicht hundertprozentig authentisch, doch für mich reicht die Illusion aus, wenn Bach tiefe oder hohe Töne spielt und ich das am Klavier nachvollziehen kann.
Fazit
Sid Meier selbst schreibt, dass er im Vorfeld Bedenken hatte: Menschen reagieren häufig ablehnend, wenn ein Computer vergleichbare Resultate erzielt. So weit kommt C.P.U. Bach zwar nicht, aber es ist ein auch heute noch faszinierendes Programm. Die Kompositionen sind nah an barocker Musik dran, lassen aber natürlich die Geistesblitze vermissen, die von einem menschlichen Komponisten – und hier im besonderen Johann Sebastian Bach – kommen. Die erzeugte Musik leidet heutzutage unter der Orchestrierung, da der 3DO-Soundchip nicht mehr mit modernen Soundkarten mithalten kann. Aber die Musik und auch die Präsentation drumherum sind für mich trotzdem immer noch fesselnd genug, um immer mal wieder ein “neues” Concerto zu hören.
Spannender Artikel, auch wenn ich den Eindruck bekomme, dass Sid Meier das hauptsächlich aus Interesse für sich selbst programmiert hat. 🙂
Danke Dir. Ja, das glaube ich auch. Bedenkt man den Druck, der zu dieser Zeit auf ihm lasten musste, war der Ausweichsprung hin zu einem Musik-Programm mit automatisch komponierter Musik der perfekte Schachzug.
Was hatte er denn für einen Stress? Soweit ich das mitbekommen habe, konnte er damals schon sehr frei wählen. Das ist wohl eher so ein Nebenbei Ding gewesen, vielleicht hatte er das sogar schon halb fertig experementiert wie auch schon bei Civilization, wo er die ganzen Kampfstrategien schon weit vorgeschrieben hatte. Zudem ist das noch für den 3DO, also Trip Hawkings Spielzeug. Der wird sicher bei MicroProse für irgendetwas gebettelt haben. MicroProse hatte doch glaube ich kein anderes 3DO Produkt im Katalog und das als eines der größten Publisher der USA.
Ich zitiere ein paar Zeilen aus seinem äußerst empfehlenswerten Buch: “It wasn’t hard to see that madness lay in that direction. I couldn’t let myself get caught in a cycle of always trying to outdo my last game, or I would lose whatever sliver of samity I still retaines after such an exhausting, complicated endeavor.”
Toller Artikel 😉
Gell? 😀
Faszinierend! Daumen hoch!
Sehr spannend! Ich hatte an der Uni tatsächlich eine Vorlesung “Einführung in die Computermusik”, wo es darum ging die barocke Komposition algorithmisch umzusetzen. Sehr interessant, wie Meier das gemacht hat, das muss ich mir mal in Betrieb anschauen.
Danke Dir! Bisher habe ich noch keinen Geistesblitz gehört, den das Programm generiert hätte. Trotzdem sehr interessante Sache, die „richtige“ Musik generiert.
Interessantes Kuriosum. 🙂
Vor allem vor dem Hintergrund heutiger generativer KI-Algorithmen spannend zu sehen, was damals schon möglich war.