Vor mittlerweile über 20 Jahren entstand in Deutschland im Rahmen eines Fan-Adventure-Projekts eine neue Spiele-Engine, die es besonders leicht machen sollte, Point-and-Click-Adventures zu erstellen.
Anfang der 2000er Jahre war die Fan- und Hobby-Adventure-Szene, nicht nur dank des Adventure Game Studios, schon sehr aktiv. Aus diesem Nährboden heraus entstanden auch die ersten Wurzeln von Zak McKracken – Between Time and Space, die 2008 zu einem gefeierten Release wuchsen und 2015 schließlich in einem Director’s Cut gipfelten. Etwa zur selben Zeit, zu Beginn des jungen Jahrtausends, entstand im gleichen Nährboden auch die erste Version von Visionaire Studio. Es diente als hauseigene Engine der Fan-Gruppierung Artificial Hair Bros., die für das erwähnte LucasArts-Fan-Adventure verantwortlich waren. Wenn ihr euch das Entwicklungsteam auf der offiziellen Seite des Spiels anseht, findet ihr neben Projektleiter Thomas „Marvel“ Dibke auch die Engine-Programmierer der ersten Stunde: Alex Hartmann, Timotheus Pokorra und Robert Neumann.
Adventures erstellen ohne Programmierkenntnisse
Visionaire wurde bereits zum Start als kostenpflichtiges Produkt konzipiert und mit einem niedrigen zweistelligen Betrag als Einführungspreis verkauft. Mittlerweile, über 20 Jahre später, liegt der Einstiegspreis bei 49 Euro für Solo-Entwickler und geht bis zu 500 Euro für die Professional-Lizenz. Doch nicht nur damit grenzte es sich vom Indie-Adventure-Platzhirsch AGS ab. Der Fokus des Programms lag von Anfang an auf sehr einfacher Bedienung, ohne dass die Anwender Programmierkenntnisse besitzen oder lernen mussten. Es sollte als Katalysator für Kreativität & Fantasie dienen. Dass es trotzdem ein mächtiges Werkzeug sein konnte, bewiesen neben Zak McKracken – Between Time and Space auch die etlichen kostenlosen und kommerziellen Spiele, die in den nächsten Jahren folgen sollten. Falls ihr selbst einmal einen Blick in das Visionaire Studio werfen möchtet, ist die offizielle Homepage die richtige Anlaufstelle.
Freeware-Adventures
Noch bevor die ersten kommerziellen Adventures vom Band liefen, gab es einige kostenlose Projekte, die mit Visionaire umgesetzt wurden. Im Jahr 2005 wurde ein Starterpack für Maniac Mansion Mania veröffentlicht, das für die Erstellung mancher Episoden verwendet wurde. Und sogar noch während der Arbeiten an Zak McKracken 2 – Between Time and Space ließ das Teammitglied Daniel „SmallSoldier“ Carl mit seinem Adventure Captain Delta und die Quelle von Argos das allererste fertige Visionaire-Spiel auf die Menschheit los.
Es folgten weitere interessante Freeware-Adventures, etwa das affige Comic-Adventure Big Time Monkey, das Mystery -Abenteuer The Red Hat und die deutschsprachige Gronkh-Parodie Onksventure aus dem Jahr 2016. Im gleichen Jahr ist auch die Bild- und Tonfabrik (btf) auf Visionaire gestoßen und hat den ersten Teil der Spiele-Serie um das „Neo Magazin Royale“ mit Jan Böhmermann unter dem Namen Game Royale – Jäger der verlorenen Glatze herausgebracht. 2016 gab es mit Game Royale 2 – The Secret of Jannis Island noch ein weiteres Visionaire-Adventure mit Jan Böhmermann als Hauptfigur, diesmal allerdings als Low-Budget-Titel.
Ähnlich wie bei AGS gibt es auch bei Visionaire eine, wenn auch deutlich kleinere, Fanadventure-Szene. Neben den bereits erwähnten Maniac Mansion Mania-Episoden würde ich zu den interessanten Projekten das South Park-inspirierte Parco Azzurro zählen, ebenso wie das auf Mass Effect basierende The Adventures of Commander Shepard. Nach acht Jahren Entwicklungszeit vollendete Ingo Eisenhard, der bei Between Time and Space für Animationen zuständig war, sein Solo-Projekt Zak McKracken Goes Looking for Hot Coffee (in Several Wrong Places). Das vermutlich neueste Visionaire-Fanadventure dürfte die Freeware-Interpretation von Alfred Hitchcock’s Psycho von Mathieu Ratier sein, die im September 2022 erschien.
Neben den beiden noch recht frischen und empfehlenswerten Spielen Lola’s Adventure sowie Rehearsal of Doom lohnt sich auf jeden Fall auch ein Blick auf die Adventures der Indie-Truppe The Argonauts aus Deutschland. Mein Anspieltipp: Welcome to the Funky Fair aus dem Jahr 2020.
Die Daedalic-Ära
Der Name des Hamburger Studios und Publishers Daedalic Entertainment war für eine lange Zeit untrennbar mit dem Visionaire Studio verbunden. Das wunderschön gezeichnete The Whispered World, das diesem Artikel auch sein Titelbild zur Verfügung stellt, steht dabei im Jahr 2009 für den Beginn der Zusammenarbeit. Es war zum einen der erste große kommerzielle Titel, der mit Visionaire erstellt wurde, und zum anderen das dritte selbst erstellte Adventure der Hamburger. Danach folgten in den nächsten achtzehn Jahren noch elf weitere Spiele, die teilweise auch hier bei GamersGlobal Höchstwertungen abräumten.
Nach der Klimawandel-Kritik A New Beginning im Jahr 2010 setzte Daedalic ein Jahr später mit Harveys neue Augen sein erstes Adventure Edna bricht aus fort. Zwischen 2012 und 2016 erschienen die Abenteuer von Rufus und seiner Heimat, dem Müllplaneten: Deponia, Chaos auf Deponia, Goodbye Deponia und Deponia Doomsday gelten mittlerweile als Adventure-Klassiker.
Zwischenzeitlich wurden auch zwei Lizenz-Abenteuer zum deutschen Pen-and-Paper-Rollenspiel Das Schwarze Auge veröffentlicht. In der Rolle des Vogelfängers Geron konntet ihr 2012 in Das Schwarze Auge – Satinavs Ketten zum Retter Aventuriens aufsteigen und ein Jahr später in der Fortsetzung Das Schwarze Auge – Memoria neben Gerons weiterer Geschichte auch die der Kriegerprinzessin Sadja erleben. Im gleichen Jahr erschien auch das märchenhafte The Night of the Rabbit (im Test, Note: 7.0), das erstmal in der Kombination Visionaire/Daedalic bei GamersGlobal eine Wertung unter 8.0 erhielt und das Ende der goldenen Daedalic-Adventure-Zeit einläutete.
Nach Anna’s Quest, das gemeinsam mit Krams Design entwickelt wurde und 2015 herausgebracht wurde, und dem im gleichen Jahr von The Brotherhood erstellten und von Daedelic gepublishten Stasis, erschien mit Ken Follets Die Säulen der Erde) im Jahr 2017 das letzte Daedalic-Visionaire-Adventure.
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