The Thaumaturge ist ein story-basiertes RPG von Fool’s Theory, einem Studio aus Bielsko-Biała, das sich aus ehemaligen Mitarbeitern von CD Projekt zusammensetzt. Dieses Label wird den meisten von euch ein Begriff sein, die ihr die Witcher-Serie gespielt habt oder GOG.com nutzt. Klingt gut? Als enthusiastischer Slawist kann ich euch so ein Spiel natürlich nicht vorenthalten.

Titel: | The Thaumaturge |
Erscheinungsdatum: | 04.03.2024 |
Plattformen: | Windows, PS5, XBox Series X|S |
Entwickler / Herausgeber: | Fool’s Theory / 11 Bit Studios |
Homepage: | https://thaumaturgethegame.com/ |
Noch ist Polen nicht verloren
The Thaumaturge spielt im zu diesem Zeitpunkt nicht auf der Landkarte präsenten Polen des frühen 20. Jahrhunderts. In dieser Welt existieren sogenannte Salutors: esoterische Wesen, die nur von Thaumaturgen wahrgenommen und für ihre Zwecke genutzt werden können. Das Spiel ist eine langsame, textlastige Erzählung, die revolutionäre Arbeits- und Unabhängigkeitskämpfe jener Zeit und Mystik miteinander verwebt und so ein einzigartiges und düsteres Stück Retro-Fiction schafft.

Wiktor Szulski, Thaumaturg
Die Geschichte folgt dem Thaumaturgen Wiktor Szulski, der nach Jahren der Wanderschaft durch den Tod seines ungeliebten Vaters in die von den Russen besetzte Stadt Warschau zurückkehrt (Polen wurde Ende des 18. Jahrhunderts zwischen Russland, Preußen und Österreich aufgeteilt und hat für 123 Jahre nicht als eigenständiger Staat existiert). Als Thaumaturge kann er emotionale Abdrücke auf Objekten lesen und die Psychen sowie mentalen Schwächen der Menschen, mit denen er interagiert, erkunden. Zudem ist er in der Lage, Salutors zu erkennen und an sich zu binden. Salutors sind metaphysische Kreaturen, die sich an Personen mit besonderen Schwachpunkten wie Stolz, Ambition etc. anheften. Sein eigener Salutor, ein Upyr, ist der stolze Geist eines alten Soldaten, den er in seiner Kindheit getroffen hat und der ihm seitdem als Gefährte und sogar als Freund zur Seite steht. Wiktor kann willkürlich zwischen unserer Realität und der metaphysischen hin- und herwechseln.

Neue Freunde, alte Fronten
Vor seiner Rückkehr hat Wiktor einen reisenden Pilger, Grigorij Rasputin, kennengelernt, mit dem ihn bald ein freundschaftliches Verhältnis verbindet. Rasputin, der über ähnliche Fähigkeiten wie ein Thaumaturge verfügt (oder vielleicht selbst einer ist?), steht unserem Helden mit Rat und Tat zur Seite.





Während Wiktor die Vergangenheit seiner Familie und die verschiedenen Viertel der Stadt erkundet, wird er in zahlreiche Intrigen verwickelt, die die Zukunft seines Landes betreffen. Bald findet er sich zwischen revolutionären Arbeiterbewegungen, Unabhängigkeiskämpfern, der alten Warschauer Nobilität, zu der er selbst gehört, und den russischen Besatzern wieder.
Ich zeig dir meine Seele
Im Lauf der Erzählung werdet ihr in ein System eingeführt, bei dem Wiktor aus seinen Beobachtungen Schlüsse zieht, während er mit der Welt interagiert. Mit seinen Kräften kann er Erinnerungen und Geschichten aus Objekten herauslesen, die neue Einblicke in die Handlung oder Charaktere bieten. Manche Hinweise sind offensichtlich, für andere muss Wiktor seine thaumaturgischen Fähigkeiten einsetzen, die durch ein Fingerschnippen per Rechtsklick symbolisiert werden. Nicht alle Details sind sofort verfügbar, in typischer Rollenspiel-Manier muss man vier verschiedene Fähigkeiten aufleveln: Mind, Deed, Word und Heart. Dies eröffnet unterschiedliche Gesprächsoptionen und beeinflusst, wie Charaktere Wiktor in Dialogen wahrnehmen und darauf reagieren.

Eine düstere Welt
The Thaumaturge erzählt eine kompromisslose Geschichte vom Streben nach persönlicher Freiheit und Selbstbestimmung vor dem Hintergrund von fremder Besatzung und Klassenspannungen. Dieses Motiv zieht sich konsequent durch das ganze Spiel. Das Spiel scheut sich nicht, unangenehme Themen anzusprechen. Das übernatürliche Element der Geschichte ist subtil in dieses Geflecht als zusätzliche Handlungsebene eingewoben. Es gibt kaum rein gute oder rein böse Charaktere, jeder versucht auf seine Art und Weise mit der politischen und sozialen Realität zurechtzukommen. Seid also darauf vorbereitet, eine finstere und fragile Welt zu erleben, in der es nur wenig Platz für Gewinner und umso mehr für Verlierer gibt.

Konflikt
Eine solche Ausgangslage heißt natürlich auch, dass viel gekämpft wird, im Hier ebenso wie im Dort. Das Kampfsystem ist dabei rundenbasiert, was normalerweise nicht so mein Ding ist, spiele ich solche Spiele doch hauptsächlich der Story wegen, doch in The Thaumaturge habe ich mich richtig auf Auseinandersetzungen gefreut – vielleicht auch deshalb, weil es mich an ein Brettspiel erinnert: Es gibt eine gute Mischung aus offensiven und passiven Fähigkeiten sowie Aktionen, die den Fokus des Feindes verringern. Der Fokus ist hierbei eine Art mentale Rüstung, die Wiktor und die meisten Feinde besitzen, und das Verringern dieses Wertes ermöglicht verheerendere Angriffe.

Im Laufe des Spiels kann man neben unserem alten Freund Upyr noch sieben weitere Salutors durch schwierige Kämpfe zähmen und an sich binden (darunter auch altslawische Gottheiten und der Krampus), die man in den Kämpfen zum Einsatz bringen kann. Verschiedene Feinde haben zudem gewisse Features und Resistenzen gegenüber gewissen Salutors, sodass ein Teil des Kampfmusters darin besteht, regelmäßig durch Wiktors Sammlung zu wechseln und den richtigen Salutor mit dem Feind abzugleichen. Die Kampfhandlungen sind à la Final Fantasy ziemlich cinematisch. In einer Review habe ich den scherzhaften Kommentar gelesen, dass die Salutors Wiktors Pokémons seien.
Der eigentliche Star des Abends

Obwohl The Thaumaturge nicht in Warschau beginnt, wird die Stadt bald zum eigentlichen Star des Spiels. Von den heruntergekommenen Baracken der Arbeiterschaft von Powiśle bis zu den prächtigen Villen der Bourgeoisie von Śródmieście hat es das Spiel geschafft, die polnische Hauptstadt des frühen 20. Jahrhunderts möglichst detailgetreu wiederzubeleben. Jeder Bezirk ist wunderschön gestaltet, von Baustellen in der Nähe noch unvollendeter Straßenbahngleise und Abwasserkanäle bis hin zu Wäscheleinen, die über die schlammigen Straßen hängen. Ein Tag-Nacht-Zyklus vollendet diese Atmosphäre. In isometrischer Ansicht wird die alte Warszawa in all ihrer beklemmenden Pracht in Szene gesetzt. Dabei könnt ihr Wiktor im Laufschritt (wahlweise per Maus oder WASD) die einzelnen Viertel der Stadt ziemlich frei abklappern lassen und dabei mit den magischen Fingern schnippen, um das ein oder andere Sidequest zu aktivieren.




Czy Państwo mówi po polsku?
Die Dialoge im Spiel sind vollständig auf Polnisch und Englisch vertont. Ich empfehle euch, das Spiel auf Polnisch mit Untertiteln zu spielen, da diese schöne Sprache sehr zur Atmosphäre beiträgt und ihre Vertonung um einiges besser umgesetzt ist als die englische. Dabei stechen Wiktor, seine fesche Schwester Ligia und sein rebellischer Jugendfreund Abaurycy besonders hervor (die gleichzeitig auch die drei coolsten Charaktere sind). Die musikalische Untermalung ist minimalistisch, klassisch, schön, dunkel und passt zur Stimmung und Thematik. Lediglich beim Kampf nimmt die Musik an Tempo auf.

Fazit
The Thaumaturge ist ein fesselndes RPG, das euch in die komplexe und mystische Welt des frühen 20. Jahrhunderts im geteilten Polen entführt. Es fordert die Spieler heraus, sich mit moralischen Grauzonen auseinanderzusetzen und bietet ein eindringliches Erlebnis, das lange nach dem Spielen nachhallt. Mit einer einzigartigen Erzählweise, die historische Ereignisse und persönliche Schicksale miteinander verknüpft, bietet das Spiel eine tiefgründige Auseinandersetzung mit Themen wie Freiheit, Identität und Ungerechtigkeit. Wiktor Szulski navigiert durch ein Netz aus Intrigen und politischen Spannungen, während er seine thaumaturgischen Fähigkeiten einsetzt, um die Geheimnisse seiner Umgebung und die Psyche seiner Gegenüber zu enthüllen. Die detailreiche Darstellung der Stadt Warschau als lebendiger Charakter verstärkt das Spiel-Erlebnis und trägt zur dichten Atmosphäre bei. Wenn ihr also einmal sehen wollt, wie Warschau ausgesehen haben könnte, bevor es im Zweiten Weltkrieg völlig zerbombt worden ist, hier ist eure Chance.

Ich war noch etwas am Überlegen, das teurer gewordene Humble Choice diesen Monat zu nutzen. Dank deines tollen Tests ist die Entscheidung gefallen 🙂
Das freut mich aber 🙂 Das Spiel ist echt großartig, obwohl ich sonst kein großer Fan von isometrischen RPGs bin. Das slawische Thema hat natürlich bei mir den Ausschlag gegeben, es zu kaufen. Ich wollte auch mein Polnisch wieder etwas auffrischen.