The End of the Sun – Eine magische Reise durch die altslawische Folklore

Als langjähriger, begeisterter Slawist war ich natürlich Feuer und Flamme (wie passend dieses Idiom ist, werdet ihr gleich sehen), nachdem ich gehört hatte, dass ein kleines Entwicklerteam aus Polen an einem Adventure arbeiten würde, in dem es um slawische Mythologie und Folklore geht.

Polen kann bereits stolz auf eine lange Geschichte von Videospielen zurückblicken und hat mit The Witcher 3 eines der erfolgreichsten und beliebtesten Spiele aller Zeiten kreiert. Eben diese Reihe hat der restlichen Welt die altslawische Mythologie schmackhaft gemacht.

The End of the Sun ist ein Ende Jänner 2025 veröffentlichtes Mystery-Adventure, das euch ebenfalls in die faszinierende Welt altslawischer Mythen und Legenden entführt. Aus der ersten Person heraus geht es darum, ein kleines, geheimnisvolles Tal zu erkunden und seine Vergangenheit zu entschlüsseln, wobei Mythos und Realität Hand in Hand gehen.

Das Tal der Geheimnisse

Ohne vorher viel über die Story des Spiels gelesen zu haben, stürze ich mich voller Freude mitten ins Geschehen. Ein mysteriöses Dorf. Was ist hier zu tun? Bevor ich verstehe, was die Papierstücke, die ich gerade eingesammelt habe, bedeuten, schaue ich mir das Lagerfeuer in der Mitte der Szenerie genauer an und finde mich schlagartig woanders wieder. Ich bin in einem Wald. Ohne viel nachzudenken, laufe ich einfach drauflos und bin von der Kulisse gefesselt. Es dürfte Sommer sein – nein, ich fühle, rieche, weiß dass es Sommer ist. So eine schöne Grafik, die einen so richtig in eine noch unbekannte Welt hineinsaugt. Ich bekomme Heimweh nach Galizien und Wolhynien. Hier bin ich zu Hause, hier kann ich mich ruhigen Gewissens verirren, ohne verloren zu sein.

Aber halt, irgendetwas stimmt hier nicht. Statt lebendiger Dorfbewohner finde ich nur verkohlte Feuerstellen und die Stille der Vergangenheit. Was ist hier geschehen?

Zeitreise und -manipulation

Erst nach und nach erschließt sich mir das Spielkonzept. Wir schlüpfen in die Rolle eines sogenannten Ashters, eines slawischen Weisen und Schamanen, der die Fähigkeit hat, durch die Zeit zu reisen. Die Zeitreise ist das zentrale Element des Spiels. Ashter können mittels Feuerstellen in die Vergangenheit eintauchen und zwischen vier Zeitperioden, die viele Jahre auseinanderliegen, wechseln. Es geht darum, Fragmente aus dem Leben der Liebenden Nadimir und Mira zu rekonstruieren und manchmal auch unterstützend in ihre Geschichte einzugreifen. Diese Manipulation der Zeit beeinflusst den Verlauf der Geschichte und die Schicksale der Charaktere, auf die ihr trefft. Nun liegt es an euch, die Fäden des Schicksals neu zu weben.

Jahreszeiten und Legenden

Die Geschichte von The End of the Sun ist inspiriert von der altslawischen Mythologie und entfaltet sich während der bedeutendsten Feste in allen vier Jahreszeiten, die weit auseinanderliegen. Ihr werdet die Geschichten derselben Helden in verschiedenen Lebensphasen kennenlernen und die ungewöhnlichen Rätsel lösen, die euch auf eurem Abenteuer begegnen. Dabei trefft ihr auch auf die ein oder andere mythologische Gestalt, die ihr vielleicht aus den Witcher-Spielen kennt, wie Utopce (Drowners) oder den Leszy. Das Spiel ist nicht linear aufgebaut, erst nach und nach erschließt sich euch die faszinierende Handlung, die ihr dann selbst für euch in die richtige Reihenfolge bringen müsst.

Charaktere, die das Herz berühren

Die Charaktere in The End of the Sun sind lebendig und vielschichtig. Mira ist ein sehr schönes Mädchen, das durchaus etwas exzentrisch und trotzig sein kann. Im Gegensatz dazu erscheint Nadimir, der um ihre Gunst buhlt, oft als ungeschickter, jedoch liebenswerter Tollpatsch, was für eine interessante Dynamik zwischen den Charakteren sorgt. Wichtig sind dazu auch noch Nadimirs Eltern Dalim und Dobramila sowie der Zimmermeister Izbor. Die Interaktionen sind so gestaltet, dass die Figuren eure Anwesenheit nicht wahrnehmen und auch nicht bemerken, wenn ihr in die Zeit eingreift. Die Figuren haben sprechende Namen: Nadimir ist „der Hoffende“, Mira „die Friedliche“. Dobramila bedeutet „Gute Liebliche“, Dalimir ist „der Unruhige“ und Izbor „der Ausgewählte“.

Ein authentisches Meisterwerk

Um die einzigartige Grafik zu erreichen, haben die Entwickler ethnografische Freilichtmuseen (Skanzen) besucht und Hunderte von Objekten sowie ganze Gebäude gescannt (auf der Homepage des Spiels ist dieser Prozess ausführlich dokumentiert). So könnt ihr die Schönheit und den Detailreichtum der altslawischen Volkskultur in ihrer authentischen Form bewundern. Die Umgebung ist dynamisch, Tageszeit, Wetter und Beleuchtung ändern sich nahtlos und verstärken die Immersion. Die Szenerie ist atemberaubend, in jeder Jahreszeit sieht das Tal anders aus.

Ein Klangteppich aus Natur und Folklore

Die Klangkulisse des Spiels trägt maßgeblich zur Atmosphäre bei. Vogelgezwitscher, summende Insekten und das Rauschen des Baches hauchen der Spielwelt Atem ein. Traditionelle slawische Melodien (auf Polnisch gesungen) untermalen die Erzählung und stechen ins Herz, dass schon einmal die ein oder andere Träne der Rührung und der Melancholie dem Auge entrinnt.

Ihr könnt das Spiel auf Polnisch oder Englisch spielen, Untertitel gibt es auch in vielen anderen Sprachen, darunter auch auf Deutsch. Die englische Sprachausgabe ist sehr gut gemacht, noch besser ist jedoch klarerweise die polnische. Falls ihr des Polnischen nicht mächtig seid, empfehle ich euch trotzdem, das Spiel in der Originalsprache mit deutschen Untertiteln zu spielen. Die englische Version hat mich durch das mehrmalige Verwenden des Wortes „Fuck“ nur allzuschnell in die Realität zurückgeholt.

Fazit

The End of the Sun ist weit mehr als nur ein Walking-Simulator. Das Konzept ist einzigartig und hat mich total in seinen Bann gezogen. Da man immer nur Bruchstücke der Geschichte um Nadimir und Mira erfährt, möchte man unbedingt wissen, was davor und danach passiert ist. Mit einer Spielzeit von 7 bis 10 Stunden und einem relativ niedrigen Schwierigkeitsgrad steht einer Entdeckung der altslawischen Kultur und Mythologie nichts im Wege. Die Kombination aus Erkundung, packender Erzählung und der tiefen Verbindung zur altslawischen Kultur macht dieses Spiel zu einem besonderen Erlebnis, das auch nach dem Fertigspielen noch einen längeren Eindruck hinterlässt.

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Über André Savetier

André hat zwei große Passionen: Musik und Adventure-Spiele. Für erstere fehlt leider die Zeit, aber ein Spielchen zwischendurch geht sich immer aus. Ein besonderes Interesse hat unser Österreicher an Adventure-Spielen, die etwas in Vergessenheit geraten sind, oder an solchen, die kaum jemand kennt.

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5 Comments on “The End of the Sun – Eine magische Reise durch die altslawische Folklore”

  1. Ich bin noch nicht durch – fand es aber bisher ganz gut. Auch wenn mich Handlung & Protagonisten noch nicht so recht fesseln konnten.

      1. Gerade pausiere ich noch, werde dem Spiel aber sicher im Laufe des Jahres noch eine Chance geben. Die Spielwelt ist natürlich klasse.

  2. Deine Begeisterung scheint durch die Zeilen hindurch, das mag ich immer bei solchen Spiele-Besprechungen. Ich werde es aber wohl eher auslassen, da warten noch ganz andere Adventures auf mich. 🙂

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