Gerade einmal 35 Jahre hat es gedauert, bis ein ganz besonderes Sierra-Adventure seine verdiente Hommage bekommen hat. Vorhang auf für The Crimson Diamond!
Titel: | The Crimson Diamond |
Erscheinungsdatum: | 15.08.2024 |
Plattformen: | Windows, MacOS |
Entwickler / Herausgeber: | Julia Minamata / Julia Minamata |
Homepage: | https://www.thecrimsondiamond.com/ |
Im Jahr 1989 erschien das textbasierte Adventure The Colonel’s Bequest von Roberta Williams bei Sierra On-Line. Es faszinierte die Spieler mit einer unverwechselbaren EGA-Grafik (kurz gesagt: niedrige Auflösung, wenig Farben) und einer Krimi- und Detektiv-Geschichte, die wie ein Theaterstück aufgebaut war. Das Gefühl, das mir dieses Spiel damals vermittelt hatte, konnte in dieser speziellen Form seitdem kein anderes Spiel mehr bei mir mehr erzeugen. Bis heute.
Die EGA-Zeitmaschine
Schon die ersten Bilder, die die kanadische Indie-Entwicklerin und Pixel-Künstlerin Julia Minamata vor ein paar Jahren von ihrem Projekt The Crimson Diamond gezeigt hat, haben bei mir wohlige Erinnerungen an frühere Zeiten ausgelöst. Vor etwa 30 Jahren bin ich im bereits erwähnten The Colonel’s Bequest mit der Protagonistin Laura Bow durch das Anwesen des titelgebenden Colonels und die umliegenden Schauplätze geschlichen, habe die Bewohner und Besucher belauscht und befragt, Beweise für die verübten Verbrechen gesucht und nebenbei noch einen Schatz gehoben.
Als ich The Crimson Diamond zum ersten Mal startete, hatte ich große Erwartungen, aber auch ein wenig Ehrfurcht, denn ein textbasiertes Spiel hatte ich wirklich schon lange nicht mehr gespielt. Doch ich kann gleich Entwarnung geben: Julia Minamata hat alles dafür getan, ihr Spiel sowohl klassisch als auch möglichst zugänglich zu halten. Und es gibt so viel über dieses ganz spezielle Adventure zu berichten.
Beginnen wir bei der grafischen Gestaltung: The Crimson Diamond fängt das Flair des offensichtlichen Vorbilds wirklich perfekt ein. Die Hintergründe und Charaktere wurden mit den als Stilmittel genutzten Limitierungen der EGA-Farbpalette äußerst liebevoll gestaltet und gepixelt. Auch in die Animationen und die Nahaufnahmen wurde viel Liebe gesteckt, man merkt dem Spiel die 6 Jahre Entwicklungszeit an.
Die Musikuntermalung, die von Dan Policar stammt, erklingt nur an bestimmten Stellen des Spiels, unterstreicht aber angenehm die Atmosphäre. Die Soundeffekte fügen sich da ebenfalls gut ein.
Ein Tipp-und-Klick-Adventure
Kommen wir zur Frage: Was genau ist ein „textbasiertes Adventure“? Diejenigen unter euch, die die Frühzeit der Grafik-Adventures verpasst haben, werden mit dem Begriff möglicherweise nicht viel anfangen können. Als berühmtes Beispiel ziehe ich hier einmal King’s Quest I heran. Hier steuert ihr eure Spielfigur mit den Pfeiltasten durch die 2D-Hintergründe. Wenn ihr etwas manipulieren möchtet, müsst ihr euch dorthin bewegen und einen Befehl eintippen. Beispiele: „TAKE CROWN“, „TALK TO KING“ oder „KILL DRAGON WITH SWORD“.
The Crimson Diamond funktioniert ähnlich, macht euch das Leben aber mit allerlei hilfreichen Abkürzungen deutlich leichter. Standardaktionen wie „OPEN DOOR“ könnt ihr mit „O D“ abkürzen. Anstatt „Ask about“ zu tippen, könnt ihr die Kurztaste Strg+A nutzen. So ergibt sich für den Spieler ein durchaus angenehmer Spielfluss, auch wenn wir alle heutzutage durch die Ein- oder Zwei-Tasten-Maussteuerungen bei neueren Indie-Adventures verwöhnt sind. Die Maus kommt hier zwar auch zum Einsatz, aber hauptsächlich als alternative Bewegungsmethode für unsere Protagonistin sowie für die Bedienung der Menüs. Gute Englischkenntnisse sind auf jeden Fall vonnöten, denn zum einen müsst ihr das Vokabular gut beherrschen, um die richtigen Befehle zu finden (wobei das Spiel viele synonyme Eingaben erkennt), zum anderen müsst ihr die Hinweise in den Dialogen und Beschreibungstexten erkennen und verstehen, um den Fall lösen zu können. Was uns zur Geschichte bringt, die das Spiel erzählt!
Willkommen in der Crimson Lodge
Die Geschichte spielt Anfang des 20. Jahrhunderts in Kanada. Die angehende Geologin Nancy Maple, angestellt im Royal Candian Museum in Toronto, wird von ihrem Boss in die Geisterstadt Crimson geschickt, um dort die Entdeckung eines riesigen Diamanten zu untersuchen. Dabei strandet sie in der Crimson Lodge, einem ehemaligen Hotel, und trifft auf den Eigentümer, der sie am liebsten sofort wieder loswerden möchte, sowie jede Menge schräger Charaktere. Schon bald rückt ihre ursprüngliche Aufgabe in den Hintergrund, da unschöne Dinge passieren, die den Detektivgeist in Miss Maple wecken!
Eure Aufgabe ist es nun, in Gestalt von Nancy das Geheimnis der Crimson Lodge, des großen Diamanten und der Bewohner und Gäste des früheren Hotels herauszufinden. Dabei schleicht ihr durch das Anwesen und die umliegenden Schauplätze, belauscht und befragt die Gäste und Bewohner und sammelt Beweise für die verübten Verbrechen. Das kommt euch bekannt vor? Dann habt ihr brav meine Einleitung oben gelesen und bemerkt, dass das Spiel eine offensichtliche Liebeserklärung an The Colonel’s Bequest ist.
Allerdings hat Julia viele Hilfen eingebaut, damit ihr nicht so auf euch allein gestellt seid wie im ersten Laura Bow-Adventure. Neben den oben genannten komfortablen Tastenkürzeln füllt das Spiel auch automatisch euer Notizbuch, in dem ihr eure Aufgaben und viele hilfreiche Hinweise nachlesen könnt. Früh im Spiel erhaltet ihr auch eine Karte, damit ihr euch nicht verlauft.
Wenn ihr die Texte der Beschreibungen und der Dialoge aufmerksam verfolgt, erhaltet ihr auch viele Stupser in die richtige Richtung, so dass eigentlich fast immer klar ist, was gerade zu tun ist. Die Rätsel sind meist logisch aufgebaut, aber gerade in späteren Kapiteln keineswegs trivial. Wenn ihr aber immer alles anseht, durchsucht und untersucht, solltet ihr auf die Lösungen kommen. Allerdings ist es auch möglich, bestimmte Dinge zu verpassen. Solltet ihr zum Beispiel zeitig zum Abendessen oder ins Bett gehen, kann es sein, dass ihr ein Gespräch in einem anderen Raum verpasst, das ihr hättet belauschen können. Dies ist dann aber keine Sackgasse – ihr könnt immer noch eins der Enden erreichen, auch wenn das möglicherweise nicht das beste ist. Die obligatorischen Tode eines Sierra-artigen Adventures halten sich zum Glück in Grenzen. Die wenigen Stellen, an denen ich Nancy (meist absichtlich) ins Messer laufen lassen habe, wurden vorab vom Spiel gut kommuniziert. Trotzdem gilt auch hier wieder die goldene Adventure-Regel: „Save often, save early“.
Fall gelöst
In insgesamt sieben Kapiteln deckt ihr nach und nach die Geheimisse auf, die die Crimson Lodge umgeben. Im finalen Abschnitt dürft ihr den Behörden dann eure Theorien und Beweise präsentieren. Habt ihr nicht alles vollumfänglich gelöst, gibt euch das Spiel (ähnlich wie beim Colonel) bereitwillig Tipps für einen weiteren Durchgang. Ich habe zwölf Stunden gebraucht, um das Ende zu erreichen, und habe dabei nahezu jeden Stein umgedreht. Dies führte dazu, dass ich viele Mysterien lösen und, wie es sich für eine Geologin gehört, eine Menge Gesteinsproben nehmen und analysieren konnte. Einige wenige Hinweise sind mir dann aber doch entgangen. Macht aber nichts, ich kehre irgendwann bestimmt gerne noch einmal in die Crimson Lodge zurück!
Solltet ihr also gute Englisch-Kenntnisse haben, die nostalgische Pixel-Grafik mögen und Spaß an einer detektivischen Herausforderung haben, dann solltet ihr The Crimson Diamond auf keinen Fall verpassen! Ihr findet das Spiel für Windows und Mac auf Steam und auf itch.io zum Preis von ca. 12 bis 15 Euro.
Ich möchte diesen Bericht mit einem Zitat von Roberta Williams, der Schöpferin von The Colonel’s Bequest, beenden, denn auch sie zeigte sich von The Crimson Diamond begeistert:
Wenn ihr die Nostalgie der „alten Spiele“ mögt – und euch dabei vielleicht in eure Kindheit zurückversetzt fühlt – dann ist dieses Spiel genau das Richtige für euch! Es hat die Atmosphäre eines Agatha Christie-Romans, der im frühen 20. Jahrhundert spielt. Wer Krimis und Spannung liebt, sollte diesem Spiel wirklich eine Chance geben.
Dem kann ich mich nur anschließen.
Ich wiederhole mich, aber auf DAS Spiel habe ich seit 2019, als ich das erste Mal davon gelesen habe, gewartet.
Absoluter Pflichtkauf für jeden AGI oder SCI0 Sierra Fan.
Toller Artikel, bin leider noch nicht durch.
Und wie fast immer, bin ich Deiner Meinung
Nicht durch mit dem Artikel oder nicht durch mit dem Spiel? 😉
Letzeres ist doch etwas gutes, so hast du noch viel Spielspaß vor dir.
Natürlich nicht durch mit dem Spiel, will mir dafür Zeit lassen 🙂
Danke für den informativen Test! Ich liebe EGA-Grafik, da werde ich immer nostalgisch und ein wenig melancholisch. Leider kommt das Spiel 30 Jahre zu spät. Wie schon oft erwähnt, werde ich mit Adventures leider nicht mehr warm. Aber das beschriebene überzeugt mich voll. Ich würde es kaufen, wenn ich nicht wüßte, dass ich spätestens nach 30 Minuten entnervt den Rest des Spiels mit der Lösung daneben spielen würde.
Du kannst es ja auch kaufen, um Julia zu unterstützen, und schaust dann ein Let’s Play. 😉
Ich habe ein großes Sierra-förmiges Loch in meiner Vita, d.h. mich überkommen keine nostalgischen Gefühle, wenn das Spiel beschrieben wird, aber es hört sich so an, als könnte das Spiel auch ohne entsprechende Brille spaßig sein. Mal schauen, ob ich mich mit der Aussicht auf einen Text-Parser anfreunden kann… Indie-Einzelkämpfer unterstütze ich schon gerne.
Es ist gewöhnungsbedürftig, aber der Parser versteht schon eine Menge. War auf jeden Fall mal wieder eine spannende Erfahrung!
Das liest sich echt gut und die Grafik gefällt mir. Es wäre bestimmt interessant zu sehen, ob ich mit dem Wissen von heute besser zurechtkäme als wenn ich noch in meiner Teenagerzeit wäre.
Danke für den schönen Test!
„GIVE GAME A TRY“ 😉
„Das klappt so nicht.“ wirst du hoffentlich nicht so oft hören in dem Spiel. 😀
It claps not like that. 😀
Haha, ja, vermute ich mal auch. Ich habe mich damals ganz schön schwer getan mit Roger Wilco. Aber Spaß gemacht hat’s trotzdem.
Geht mir genau so: Als ich 2019 zum ersten Mal von diesem Spiel hörte, konnte ich es nicht mehr erwarten, bis es erscheint. Es sollte dann ja noch 5 Jahre dauern…
The Colonel’s Bequest ist eines meiner liebsten Adventures. Klar, es hat nicht viele klassische Rätsel, aber was das Spiel bietet, macht dies locker wieder wett.
Und Crimson Diamond ist als Hommage an Laura Bows erstes Abenteuer echt super gelungen. Es hat die gleichen Stärken und ist dazu noch etwas geführter, so dass man nicht ganz so viele Notizen machen muss wie beim Vorbild.
Bisschen lustig ist, dass Crimson Diamond nicht ganz alle Komfortfunktionen von Laura Bow 1 übernimmt. So öffnete Laura im Original noch automatisch Türen, wenn man in diese hinein lief, oder bot erweiterte Mausunterstützung, indem man mit der rechten Maustaste per Klick Gegenstände auf dem Bild anschauen konnte. Und auch das Textfeld des Parsers war 1989 etwas flexibler.
Macht aber nichts – die Wartezeit auf Crimson Diamond hat sich echt gelohnt!
Das mit den Türen hatte ich komplett verdrängt!