Die 1990er Jahre waren eine Hochphase für Prügelspiele in der Arcade. Nach dem großen Erfolg von Mortal Kombat versuchten viele Firmen, den Verkaufsschlager zu kopieren. Nicht immer mit Erfolg.
Tattoo Assassins ist einer dieser Nachahmer. Obwohl er nie offiziell veröffentlicht wurde, gilt der Titel heutzutage als “the worst fighting game” oder “the worst MK clone to ever exist”. Das ist ähnlich ungerecht wie die urbane Legende, dass E.T. das schlechteste Spiel aller Zeiten ist. Dieser Artikel versucht allerdings auch nicht, einen mittelmäßigen Titel besser zu verkaufen, als er war. In keiner Teildisziplin schließt Tattoo Assassins zum großen Vorbild auf. Nur in Sachen schlechter Geschmack kann das Spiel punkten. Und das nicht zu knapp.
Outatime
Die Ursprünge der Prügler-Entwicklung liegen in den Jahren 1989 und 1990. Während der Konstruktion des Flippers zu Zurück in die Zukunft III freundeten sich der Data-East-Vorstand Joe Kaminkov und der Drehbuchautor/ Co-Produzent der Filmreihe Bob Gale an. Gale schickte Kaminkov von Zeit zu Zeit die Skripte, an denen er gerade arbeitete. Eines davon drehte sich um magische Tattoos, die sich gegenseitig bekämpften. Für den Data-East-Mann war das die ideale Vorlage, um dem aktuell erfolgreichen Mortal Kombat 2 Paroli zu bieten. Kaminkov schaffte es, die Idee seinen Vorgesetzten in Japan schmackhaft zu machen – und Data East Pinball machte sich daran, sein erstes (und letztes) Videospiel zu produzieren.
Wenn eine Firma einen völlig neuen Geschäftszweig aufbauen möchte, sind zwei Dinge von höchster Wichtigkeit: Geld und Geduld. Data East wählte einen anderen Weg: Das Spiel sollte in acht Monaten fertig entwickelt sein. Falls dieses knappe Ziel eingehalten werden könnte, würde jeder Mitarbeiter 25.000 Dollar Bonus erhalten. Und obendrauf für jedes fertig ausgelieferte Arcade-Cabinet 25 Dollar. Die Kehrseite der Medaille waren die Arbeitszeiten: Das Team arbeitete im Schnitt 12 Stunden pro Tag – auch am Wochenende. Das Essen wurde herangeschafft und die Mahlzeiten-Pausen mit Meetings gefüllt. Verließ jemand das Büro früher oder kam zu spät, wurde ihm mit Bonus-Abzügen gedroht.
Dass in einem solchen Umfeld früher oder später die Motivation am Boden liegt, ist verständlich. Auf der Webseite bunnyears.com gibt es einen (anonymen) Mitarbeiter-Bericht: Spätestens nach einem Messeauftritt bei der ACME Convention war das Team ausgebrannt. Es ging den Mitarbeitern nicht mehr um den Bonus. Sie wollten mit diesem Spiel einfach nichts mehr zu tun haben. Die ACME-Version des Spiels lief zwar, bot allerdings keinerlei Spezialattacken außer einem Stromstoß, den ein einzelner Charakter loslassen konnte. Dennoch wurde der Titel auf der Convention gelobt – doch die Team-Mitglieder wussten, dass ihr Spiel keine Konkurrenz zu Mortal Kombat sein würde.
Ende August 1994 wurde bekannt, dass Sega die Firma Data East Pinball aufkaufen würde. Einige Monate werkelte das Team noch an Tattoo Assassins und produzierte sogar einige Prototyp-Automaten. Laut unterschiedlichen Aussagen ließ Sega diese allerdings größtenteils wieder einstampfen, so dass nur wenige Exemplare zu finden sind. Reddit-User astrodomekid hat das nebenstehende Bild gepostet. Auf der Seite Artstation gibt es einen digitalen Nachbau zu sehen. Warum Sega sich zu diesem Zeitpunkt entschlossen hatte, der Entwicklung doch noch den Stecker zu ziehen, ist umstritten. Angeblich wollten die Verantwortlichen dem hauseigenen Virtua Fighter keine Konkurrenz machen. Ob dies tatsächlich der Grund war, werden wir wohl nie erfahren.
Nicht ganz unwesentlich zu der Einstellung beigetragen haben dürfte das Tester-Feedback. Auf der oben bereits erwähnten Seite gibt es auch noch einen (ebenfalls anonymen) Tester-Bericht. Während diese Person zu dem Schluss kommt, dass es schlechtere Fighting Games gegeben habe, schließt der Entwickler mit den Worten:
We had several of our competitors’ games in the lab with our TAs, and we’d have to go down to the lab every half hour to make them go back to playing our game. We couldn’t pay people to play TA it seems.
bunnyears.net/tattoo/
Natürlich gibt es von einem eingestellten Arcade-Titel auch keine Heim-Umsetzungen. Bekannt wurde Tattoo Assassins erst, als die Prototyp-Daten online gestellt wurden. In entsprechenden Emulatoren läuft der Titel problemlos – die wenigen Sound-Probleme dürften der unfertigen Version geschuldet sein.
Die Story
Schöner, knapper und präziser als der Flyer-Text kann eine Zusammenfassung gar nicht sein. Bitteschön:
Mullah Abba ruft Dich! Du sollst einen Attentäter für den Kampf gegen Koldan den Eroberer auswählen. Entdecke die uralte Tinte von Ghize wieder. Einen flüssigen Organismus, der sich für kurze Zeit in echte Objekte verwandelt, wenn er als Tätowierung auf Menschen aufgetragen wird. Seid gewarnt! Koldans Legionen sind loyal bis in den Tod! Sie werden dich nicht passieren lassen, ohne vorher besiegt worden zu sein!
Hey! Niemand hat gesagt, dass die Story Sinn ergibt! Sie reicht immerhin aus, um die Grundidee an den Spieler zu bringen und ein Sammelsurium an Kämpfern bereit zu stellen. Unter den neun Freiwilligen finden sich zum Beispiel
- Billy Two Moons – Der amerikanische Ureinwohner geriet mit dem Gesetz in Konflikt, weil er den Friedhof seiner Urahnen bewacht. Was ja (wenn man Film und Fernsehen Glauben schenkt) keine schlechte Idee ist.
- Derek O’Toole – Wie sagte schon Leo Tolstoi? “Die Musik löst alle Rätsel des Daseins.” Derek nimmt das recht wörtlich: Der Rockstar löst seine Probleme direkt mit seiner Gitarre, die er Gegnern um die Ohren drischt. Power-Akkorde eben.
- Hannah Hart – Jedes Prügelspiel von zweifelhaftem Geschmack braucht sie: Die ehemalige Stripperin, die den Mörder ihrer Kolleginnen sucht.
- Truck Davis – Der Name führt in die Irre: Truck ist keiner der beiden Auf Achse-Schauspieler. Er ist der letzte Überlebende einer Biker-Gang, die von den schlechten Verlierern eines Trinkwettbewerbs ausgelöscht wurde. Sein Motiv: Rache!
Genre-üblich entscheidet sich der Spieler für ein Alter Ego auf dem Bildschirm und kämpft sich die Gegner-Leiter nach oben. Neben den anderen Kämpfern treten ihm noch drei Zwischen-Bosse und natürlich Oberfiesling Koldan entgegen. Moment: Warum kämpfen die anderen Attentäter denn gegen uns? Nun: Koldan kann sie wegen der magischen Tinte kontrollieren. Warum nicht unsere Figur?
Auftritt Lyla Blue: Die junge Dame verfügt über die gleiche Fähigkeit wie Koldan, kann allerdings nur einen einzigen Kämpfer beeinflussen. Was uns zum Auswahl-Menü führt, das sich auf dem Rücken Lylas befindet. Dort sind sämtliche zur Verfügung stehenden Tattoos versammelt. Lyla wird verkörpert von der Schauspielerin Renée Suran, die damals mit dem Guns ‘n’ Roses-Gitarristen Slash verheiratet war. Dieser wiederum war Data East Pinball wegen des Band-eigenen Flippers verbunden, an dessen Konzept er selbst mitgearbeitet haben soll. Kleiner Ausflug: Besagter Flipper war lange Zeit die einzige Möglichkeit, den Song Ain’t goin’ down no more zu hören.
Weitere bekannte Namen sucht man vergebens. Die Schauspieler, die die Kämpen verkörpern, haben keine größeren Spuren in der Kinowelt hinterlassen. Christine Dupree, die im Spiel die Eiskunstläuferin Karla Keller verkörpert, spielt in Filmen wie Giantess Battle Attack oder Zwei unter Volldampf mit. Charley Rice hat in vielen Kurzfilmen mitgespielt, die er auch als ausführender Produzent mitbegleitet hat. Die bekannteste Darstellerin war damals anscheinend Gretchen Stockdale, ehemalige Cheerleaderin und Unterwäsche-Model. In diesem Falle ist die Bekanntheit allerdings auch ziemlich egal. Die gepixelten Figuren sehen zwar nicht schlecht aus, sind dennoch weit davon entfernt, die Gesichter gut abzubilden. So oder so: Kämpfer aussuchen und ab ins Spiel!
Kloppo!
Tattoo Assassins bietet im Grunde übliche Fighter-Kost. Wie gut oder schlecht die Kämpfer und die Kämpfe funktionieren, ist leider außerhalb meines Erfahrungshorizonts. Für diese Art von Spielen bin ich einfach nicht flott genug am Controller. Deshalb kann ich nur festhalten: Die Steuerung funktioniert und vom Fußfeger bis zu hohen Kick-Sprüngen ist alles dabei, was Spieler Mitte der 1990er erwarteten. Darüber hinaus versucht das Spiel allerdings, aus seiner Hintergrundgeschichte noch ein wenig Abwechslung auf die Mattscheibe zu zaubern:
Jedem Kämpfer ist eines der Tattoos zugeordnet. Und wie in der Story (VON BOB GALE!!!) schon verraten wurde, kann die Tinte sich in einen realen Gegenstand manifestieren. Hannahs Spinnenbeine durchbohren den Gegner auch auf einen Meter Entfernung. Lukes Oktopuss umschlingt den Gegner sehr sehr eng, Trucks Schlange verschlingt den Gegner und so weiter. Graphisch passt das mal mehr mal weniger gut zu den gescannten Kämpfern.
Der Titel klotzt zusätzlich mit der schieren Anzahl an Fatalities. Angeblich verfügt jeder einzelne Kämpfer über 25 verschiedene Möglichkeiten, so dass für Abwechslung gesorgt wäre. Gezählt hat es vermutlich niemand so ganz genau, aber die 2196 Fatalities, mit denen der Automat beworben werden sollte, sind wohl Wunschdenken – selbst wenn man jede Kombination einzeln zählt. Zerstreuung findet der experimentierfreudige Spieler dennoch: Unter anderem gibt es auch die Möglichkeit, dem Gegner einen DeLorean auf den Kopf fallen zu lassen. Tattoo Assassins versucht wirklich alles, um Bob Gale (!!!) samt Zurück in die Zukunft zu erwähnen.
So sehr Tattoo Assassins auch ein Klon von Mortal Kombat ist: In einem bestimmten Bereich war das Spiel seiner Konkurrenz weit voraus. In den damaligen Spielhallen ging das Gerücht um, dass Sonya Blade aus MK mit einer bestimmten Button-Kombination blankziehen würde. TA setzte diese Idee in die Tat um und bietet jedem Kämpfer die Möglichkeit, seinen Gegnern die Kleidung vom Leib zu pusten. Diese Nudalities bestehen letzten Endes aus einem vor sich hinzitternden Bildchen. Dennoch: Erster!
Neben Fata- und Nudalities bietet Tattoo Assassins auch noch Animalities. Ist der Gegner fast besiegt, kann der Spieler ihn in ein Tier verwandeln – Ausnahmen sind ein Kaktus und ein Spielzeug-Roboter. Der Nutzen ist begrenzt – und besonders spannend sieht dies auch nicht aus. Auch hier ist es schlicht ein einzelnes Bild. SNK vs. Capcom griff diese Idee einige Jahre später wieder auf und in die Mortal-Kombat-Serie zog diese Idee erst bei Teil 3 ein.
Welche Designer-Leuchte auf die obskurste Idee des Spiels kam, liegt leider im Dunkel der Geschichte. Lassen wir hier noch einmal den namenlosen Testspieler zu Wort kommen:
I remember that there was a very damaging move: up, right, up, right, up, right, up, right while holding block, then press punch. Your character would then turn around and fire acidic diarrhea at your opponent. If you got hit by it, say good-bye to 25% of your health.
bunnyears.net/tattoo/
Dagegen kann nun wirklich kein Spiel anstinken. Diese Attacke gibt es in drei Varianten: Eher harmlos-grünlich, die Flammenwerfer-Ausführung und große Teller voller Truthahn. Wer es sehen möchte: In diesem Video zeigen die drei weiblichen Kämpferinnen genau, wie es geht.
Mortal Kombat wins!
Hätte ein veröffentlichter Tattoo Assassins-Automat den Lauf der Arcade-Geschichte verändert? Unwahrscheinlich. Vielleicht hätte der Prozess um O.J. Simpson für ein wenig Aufmerksamkeit gesorgt, da die Hannah-Darstellerin damals gut mit ihm befreundet war und auch vor Gericht aussagte. Doch selbst das hätte vermutlich nicht dazu geführt, dass wir heutzutage ein Tattoo Assassins X auf der Konsole spielen würden.
Dennoch sollte sich jeder geneigte Spieler sein eigenes Bild von dieser Obskurität machen. Am besten bei geschlossener Zimmertür. Schließlich könnten Teile dieser Darbietung die Öffentlichkeit verstören.
Warum nur? WARUM NUR??? Und vorallem: warum habe ich blödes Schwein den Youtube-Link angeklickt?!? 😀
Ah, du wurdest erleuchtet .
😀
Bis auf dieses Flatulenz-Feature verstehe ich die Absicht der Entwickler ja noch. Der Grat zwischen „seltsam“ und“genial“ ist schmal. Hätte ja auch klappen können.
Stimmt schon. Auch bei Primal Rage, dieses Mortal Kombat in der Urzeit, gab es einen Char, der flatuliert hat…
Und nochmals zum Thema Flatulenzen: https://de.wikipedia.org/wiki/Roland_der_Furzer
😀 😀 😀
Danke. Endlich habe ich meinen Traumjob gefunden.