Spiele-Designer bringen im Laufe ihrer Karriere nicht jede Idee zu einem marktreifen Spiel. Während einige Titel jahrelang entwickelt werden, bevor ihnen der Publisher den Stecker zieht, kommen andere Ideen nicht einmal über das erste Stadium hinaus und bleiben genau das: eine Idee. In manchen Fällen ist ein Designer allerdings so sehr von seiner Kreativität überzeugt, dass er die immer gleiche Idee wieder und wieder hervorkramt und daran arbeitet, bis… ja, bis sie im Atlantik versinkt wie die Titanic.
Brøderbund
Im Dezember 1995 erstellte Steve Meretzky mal wieder einen solchen Entwurf. Es scheint eine sehr arbeitsreiche Zeit für ihn und Boffo Games gewesen zu sein: Zu diesem Zeitpunkt hatte die neue Firma ein einziges Spiel, Hodj ’n‘ Podj veröffentlicht und benötigte dringend Aufträge. Das zweite Spiel, das unter Boffo-Flagge veröffentlicht wurde (Space Bar) erschien erst 1997. Da aber auf die ein oder andere Weise Geld verdient werden musste, schlug Meretzky der Firma Brøderbund ein Spiel vor, mit dessen Thema er sich schon seit Infocom-Tagen beschäftigt hat: Der Titanic. Das Luxus-Schiff war allerdings kein neuer Gedanke. Die Grundidee hatte er bereits Legend Entertainment und zuvor Infocom vorgeschlagen:
Das Titanic-Spiel hätte ich wahrscheinlich als nächstes bei Infocom gemacht, wenn die Firma nicht geschlossen worden wäre. Aber Legend dachte, dass sich niemand für die Titanic interessierte. (Natürlich wurde der Titanic-Film 5 Jahre später zum erfolgreichsten Film aller Zeiten, und ein Titanic-Adventure war das zweiterfolgreichste Spiel des Jahres, nach Myst…)
Steve Meretzky
Der berühmte Titanic-Film kam 1997 in die Kinos. Das Spiel Titanic: Adventure in Time mit seinen fünf Millionen Exemplaren Absatz erschien im Oktober 1996. Und der von Meretzky erwähnte Legend-Entwurf stammt aus dem Jahre 1991 – allerdings übernimmt er große Passagen des ursprünglichen Konzepts, das Meretzky 1989 bereits Infocom vorgeschlagen hat.
Im Grunde schlägt Meretzky ein interaktives Buch vor. Der Spieler soll die letzte Nacht der Titanic in Echtzeit erleben und alle verfügbaren Informationen im Rahmen dieses Computerspiels serviert bekommen. Die ursprüngliche Infocom-Fassung geht noch von einzelnen Schwarz-Weiß-Bildern aus, bei der Legend-Version schwebt Meretzky bereits eine CD-ROM vor. Er beschreibt auch den Bildaufbau und liefert eine Skizze mit:

Ganz oben in der Statuszeile finden sich der aktuelle Standort und die Uhrzeit. Das untere Drittel des Bildschirms zeigt den aktuellen Abschnitt des Schiffsplans. Dies dient einerseits zur Orientierung, ersetzt andererseits allerdings auch die klassische Legend-Kompassrose. Der Großteil des Bildschirms beschreibt in Bild und Text den aktuellen Raum. An Bildmaterial herrscht kein Mangel und Meretzky möchte hier so viele Originalbilder wie möglich verwenden. Wohlgemerkt: 1991.
Immer wieder kommt Meretzky auf den knapp drei Seiten des Entwurfs darauf zurück, dass sein Vorschlag kein Adventure wäre. Schlicht, weil es in der Spielsituation nicht genügend Handlungsmöglichkeiten für den Spieler gäbe. Vor allem das vorgegebene Ende würde dem Spielspaß einen Riegel vorschieben. Denn die historischen Ereignisse sollten auf jeden Fall unangetastet bleiben.
So faszinierend die Idee dieser frühen Multimedia-CD-ROM sein mag: Als CEO einer Spielefirma wie Legend hätte ich diesen Vorschlag wohl auch abgelehnt. Erst der Brøderbund-Entwurf von 1995 erweiterte die Grundidee „Titanic“ beträchtlich und machte ein Spiel daraus. Denn hier mischt Meretzky zwei historische Begebenheiten mit viel Fantasie: Einerseits geht es um die Jungfernfahrt des Passagierdampfers Titanic. Das luxuriös ausgestattete Schiff legte am 10. April 1912 in Southampton ab und kollidierte auf dem Weg nach New York kurz vor Mitternacht am 14. April mit einem Eisberg. Die Schäden waren so enorm, dass das als unsinkbar geltende Schiff knapp drei Stunden später sank und über 1500 Passagiere in den Tod riss.
Was für ein Lächeln!

Dieses Ereignis verknüpft Meretzky mit dem Diebstahl der Mona Lisa im Jahre 1911. Damals versteckte sich der Handwerker Vincenzo Peruggia über Nacht in einem Schrank des Louvre, löste das Bild aus dem Rahmen und spazierte am nächsten Tag damit aus dem Museum. Dies ist natürlich nur möglich gewesen, weil das Bild gerade einmal 77 auf 53 cm groß ist. Peruggia versteckte das Bild über zwei Jahre lang in seiner Wohnung, bis er es im Dezember 1913 an einen italienischen Kunsthändler verkaufen wollte. Dieser täuschte Interesse vor und konnte das Bild inspizieren. Nachdem feststand, dass dies tatsächlich das Original war, konnte Peruggia von der Polizei festgenommen werden. Nach einer Rundreise durch einige italienische Städte wurde die Mona Lisa wieder an den Louvre übergeben, während Peruggia zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt wurde.
In Meretzkys Fassung ist der Diebstahl des Gemäldes das Werk einer dreiköpfigen Gruppe im Auftrag eines ominösen Kriminellen, der Marqués genannt wird. Sie stehlen das Bild und möchten mithilfe eines nachgemachten Schlüssels entkommen – doch dieser passt nicht. Panisch beginnen die Diebe, den Türknauf abzuschrauben. Ein zufällig ebenfalls vor Ort beschäftigter Klempner öffnet ihnen hilfsbereit die Tür und damit verschwindet das Bild wie in der Realität für die nächsten Jahre aus der Öffentlichkeit. Die Frage ist nun: War das Bild tatsächlich die ganze Zeit in Paris in einer kleinen Wohnung versteckt? Oder war es auf dem Weg nach New York, um an einen reichen Amerikaner verkauft zu werden?
Das Spiel
An dieser Stelle übernimmt der Spieler die Rolle des unglückseligen Klempners. Er hat nach dem Diebstahl seine Arbeitsstelle verloren und ist nun Weinkellner an Bord der Titanic. Im frühen Spielverlauf erfährt er, dass ein Passagier einen ungewöhnlichen Gegenstand in einem der Schiffstresore deponiert hat. Einige Nachforschungen später ist klar: Die Mona Lisa ist an Bord – und der Marqués mit ihr. Verständlich, dass der Klempner seinen Ruf wiederherstellen möchte. Sein Plan ist, den genauen Aufenthaltsort des Bilds in Erfahrung zu bringen und dann den Kapitän zu informieren. Nächste Schritte: Triumphaler Empfang in New York, Empfänge, Champagner, Ruhm. Doch der Eisberg hat andere Pläne mit dem Schiff.
Meretzky formuliert drei Phasen für das Adventure:
- Informationen über das Bild und seinen Aufenthaltsort sammeln.
- Das Gemälde aus dem Safe entwenden
- Vor dem Marqués fliehen und die nächsten Stunden überleben.
Zuletzt sollte der kühne Klempner in einer Cutscene an Bord der Carpathia – dem Schiff, das 705 überlebende Passagiere der Titanic gerettet hat – in New York ankommen. Doch seine Freude wäre nur von kurzer Dauer, da das Gemälde ja historisch korrekt 1913 in Italien sein muss. Auf welche Weise die Mona Lisa wieder verschwindet, schildert Meretzky allerdings nicht in seinem Entwurf. Die Spieldauer setzt der Designer mit voraussichtlich 20-30 Stunden an –verblüffend lang für ein Adventure.

Der technische Teil des Brøderbund-Entwurfs dürfte sich stark von den früheren Infocom- und Legend-Entwürfen unterscheiden: Meretzky spricht hier von einem „cinematic, first person adventure game with detailed, 3D rendered environments.“ Die Charaktere sollten vor Bluescreen gefilmte Schauspieler sein, während die Hintergründe der einzelnen Decks anhand der vorhandenen Fotographien der Titanic möglichst realistisch dargestellt werden sollten. Was allerdings sowohl in dieser 3D-Umgebung als auch in Legends Engine funktioniert hätte, sind die Rätsel. Meretzky schlägt in seinem Entwurf einige Situationen vor:
- Wie öffnet man den Safe, in dem die Mona Lisa aufbewahrt wird?
- Wie schützt man das Gemälde vor Feuchtigkeit?
- Wie schmuggelt sich der Spieler in eines der Rettungsboote? Oder könnte er alternativ aus Schiffsteilen ein eigenes Boot bauen?
Besonders interessant ist die Idee, die Auseinandersetzung mit dem Marqués auf einen Kampf Mann gegen Mann zusteuern zu lassen. Denn hier schlägt Meretzky auch vor, dass sich der Kampf auf den Eisberg verlagern könnte, von dem der Spieler dann nach seinem Sieg auch wieder irgendwie entkommen müsste.
Wie dem auch sei: Auch diese spannende Idee von Steve Meretzky blieb leider im Entwurfsstadium stecken und wird wohl nicht mehr verwirklicht werden.

Andere Ideen
Steve Meretzky hatte neben den eingangs erwähnten Titeln noch einige andere Spiele vorgeschlagen. Natürlich waren auch die Interaktive Bibel und andere Ideen aus Infocom-Tagen vertreten. Neu im Programm war dagegen Blazing Parsers:
Die Grundgeschichte ist ein kitschiger Spaghetti-Western mit all den üblichen Figuren und Situationen: Viehdiebe, ehrliche Rancher, alte Jungfern-Lehrerinnen, ein Greenhorn-Sheriff, ein Saloon voller Rüpel, eine Gangsterbande, Schießereien auf der Hauptstraße, Flittchen im Tanzsaal, Goldschürfer usw. Ein Teil des Humors besteht darin, dass der Kitsch noch einen Schritt weiter Richtung Satire geht. Der andere Gag ist, dass es im Spiel mehrere Parser mit unterschiedlichen Persönlichkeiten und Kompetenzgraden gibt, die ständig aus dem Spiel und wieder rein-„wandern“…. Die Parser würden Mittagspause machen, die Praktikanten-Parser würden einspringen und Fehler machen, die Parser würden Schwätzchen halten oder sich gegenseitig beleidigen, zwei Parser würden sich darüber streiten, wer das Sagen hat, usw.
(Robert A. (“Bob”) Bates papers, Brian Sutton-Smith Library and Archives of Play at The Strong, Rochester, N.Y., USA.)
Eine andere Idee namens Time Travel Comedy wäre eine Kreuzung aus Spellcasting und TIMEQUEST gewesen:
Du bist ein Ernie-Eaglebeak-artiges Mitglied einer Zeitpatrouille. Nennen wir dich mal Butch Babcock. Du bekommst eine Reihe von Aufträgen, von denen die meisten in unserer eigenen Vergangenheit zu erledigen sind, um Defekte im Zeitstrom zu reparieren. Diese können durch natürliche Ursachen oder durch Bösewichter entstanden sein. Alle deine Missionen führen dich zu berühmten Momenten in der Geschichte, wo du die Dinge in Ordnung bringen musst. Dabei nimmst du auch immer unwichtige, aber humorige Veränderungen im Zeitstrom vor, die bei deiner Rückkehr ganz subtil sichtbar werden. Meistens fügst du dich selbst in die Geschichte ein. Zum Beispiel kehrst du aus Palästina um das Jahr 33 n. Chr. zurück und stellst dann fest, dass du auf dem Gemälde des letzten Abendmahls nun zwischen zwei Aposteln stehen. Oder du kehrst aus dem Russland der Oktoberrevolution zurück und bemerkst, dass die größten Städte des Landes nun Moskau, Kiew und Babcockgrad heißen. Eine Art Kreuzung aus The Time Tunnel und Pink Panther.
(Robert A. (“Bob”) Bates papers, Brian Sutton-Smith Library and Archives of Play at The Strong, Rochester, N.Y., USA.)
Meretzky hatte auch einige Ideen, die er nicht als Adventure umsetzen wollte. So schwebten ihm eine Art Sim City auf dem Mond namens Moonbase Mayor oder eine (im wahrsten Sinne des Wortes) Mini-Sportspiel-Sammlung vor. Bei Letzterer wollte er das Prinzip von Minigolf auf andere Sportarten wie zum Beispiel Bowling oder Straßenrennen übertragen. Außerdem existierte bereits ein Prototyp eines Risiko-artigen Spiels namens Planetaire, das im Grunde das bekannte Spielprinzip ins All verlegt und statt des immer gleichen Spielbretts mit vielen verschiedenen Karten punkten wollte.
Die Spielidee, die garantiert einige Kontroversen bis hin zu Spielepackungs-Verbrennungen hervorgerufen hätte, versteckt sich auf Seite drei dieser Vorschlagsliste: Queer Jesus.
Du spielst Bruce, den längst vergessenen 13. Apostel von Jesus. Das Spiel setzt ein, als gerade die Popularität Jesu zunimmt und die Bevölkerung Palästinas, die Hohepriester und die römischen Herrscher aufhorchen. Dein Ziel ist es, dafür zu sorgen, dass die wachsende Schar der Fans, die Medien und die Geschichte selbst nicht die geheime Wahrheit erfahren: dass Jesus eine lispelnde, warme, tanzwütige Königin ist.
Du musst Besucher von Big J fernhalten, wenn er eine seiner privaten kleinen Partys gibt. Du musst ihm eine Scheinbeziehung mit Maria Magdalena arrangieren (so wie das Filmstudio eine Scheinehe für Rock Hudson arrangiert hat). Du musst Ablenkungen organisieren, damit die Leute nicht verstehen können, was Jesus tatsächlich sagt, damit du das dann interpretieren kannst. (Jesus: It’s blessed to be greeked! Reporter: What did he say? Bruce: He said, ‚Blessed are the meek‘.)
Das Titelbild könnte eine Nahaufnahme der an das Kreuz genagelten Hand Jesu zeigen. Das Handgelenk hängt schlaff nach vorne man erkennt, dass seine Fingernägel mit grellem Nagellack gefärbt sind. Ein offensichtliches Logo wäre
J
Q U E E R
S
U
S
Ein unterhaltsames Spiel, das mit Sicherheit eine riesige Menge kostenloser Publicity bekommen wird.
(Robert A. (“Bob”) Bates papers, Brian Sutton-Smith Library and Archives of Play at The Strong, Rochester, N.Y., USA.)

Was du immer für Sachen rauskramst! 😉
Wir werden wohl nie erfahren, ob aus der Idee ein gutes Spiel geworden wäre.