Morgenluft für Legend Entertainment: Die Firma durfte den Nachfolger für den erfolgreichen Shooter Unreal entwickeln. Die Chance, endlich einen Verkaufshit zu landen. Oder?
Im November 1999 hatte Legend Entertainment The Wheel of Time veröffentlicht, ihr erstes großes Solo- und Multiplayer-Spiel in der Unreal Engine. Aber bereits ein paar Monate davor gab es eine erste Kostprobe ihrer Fertigkeiten mit dieser neuen Software: GT Interactive hatte sie damit beauftragt, ein Addon für den äußerst erfolgreichen Shooter zu basteln, der der Engine ihren Namen gab. Und so erschien im Juni 1999 das Unreal Mission Pack 1 – Return to Na Pali. Es war schnell verdientes Geld und ein schnell gemachter Job, da das Spiel (wie der Name schon verrät) viele Umgebungen, Gegner und Waffen des Hauptspiels wieder verwendet. Außerdem verarbeiteten Mike Verdu und sein Team auch Grafiken, die für das Hauptspiel erstellt und nicht genutzt worden waren und ergänzten natürlich noch eigene Ideen. Die drei neuen Waffen enttäuschten etwas, da sie hauptsächlich Abwandlungen bereits bestehender Modelle waren und die Level waren größtenteils kleiner als die des Hauptspiels. Alles in allem war Return to Na Pali mehr vom Gleichen. Neuzugang Matthias Worch erinnert sich in seinem Blog:
Als Missionspaket sollte Na Pali kein neues Spiel sein. Es sollte eine Erweiterung und eine Hommage an das Originalspiel sein, was bedeutete, zu verstehen, was das Original-Unreal so erfolgreich gemacht hatte:
- schöne Grafiken und Effekte
- riesige Außenanlagen
- fesselnde Mittelalter-/Science-Fiction-Atmosphäre
- großartige Gegner-KI
- epischer (no pun intended) Maßstab in den Umgebungen
Meine Maps erreichen nicht das epische Gefühl, das viele der ursprünglichen Unreal-Karten hatten. Vieles davon hing mit meinen damaligen Sicht der Dinge zusammen: Ich wollte die Dinge (im Kontext des Spiels) so “realistisch” wie möglich halten, und das führte zu vielen Räumen in menschlicheren Größen.
Vielleicht auch deshalb war Thomas Werner in der PC Player 8/99 nur bedingt begeistert: “Lieblos wirkende Geschichte”, “Leveldesign macht einen bemühten Eindruck”, “keiner der spektakulären Einfälle, die ich an Unreal so schätzte”. Das konnten ja nicht mehr als 68 Punkte werden.
Dennoch: Legend hatte seine Visitenkarte abgegeben und Epic gab nach The Wheel of Time grünes Licht für ein weiteres Spiel mit ihrer Engine.
Unreal 2 – The Awakening
Im Dezember 1998 hatte GT Interactive neben einigen anderen Firmen Legend Entertainment für rund 2 Millionen Dollar gekauft. Aber dann geriet sie selbst in finanzielle Untiefen und wurde 1999, rund um die Veröffentlichung des Multiplayer-Shooters Unreal Tournament vom französischen Publisher Infogrames aufgekauft. Im Mai 2003 benannte sich Infogrames dann in Atari um, weil dieser Name in den USA mehr Klang hatte und die Namensrechte seit der Übernahme der Hasbro-Computerspiel-Abteilung ebenfalls im Konzern waren.
Abseits dieser geschäftlichen Entwicklungen setzte sich Legend Entertainment daran, mit Unreal 2 den Nachfolger des erfolgreichen Shooters zu produzieren. Wobei in der Zwischenzeit mit Unreal Tournament, Unreal Tournament 2003 und Unreal Championship (der UT-Umsetzung für die XBox) die Marke im Mehrspieler-Bereich bereits stark ausgebaut worden war. Nun sollte ein starkes Solo-Spiel, das aber natürlich trotzdem Mehrspielern einen Modus liefern würde, den Erfolg des Vorgängers toppen.
Wer – Wie – Was
Wer sich auf Moby die Credits zum fertigen Spiel durchliest, der sieht noch einmal die Firmengeschichte an sich vorbei ziehen: Mike Verdu, Glen Dahlgren und Mark Poesch produzierten den Titel, Paul Mock leitete das künstlerische Team und selbst Bob Bates bekommt seine Einträge für Dialoge und die “finale Story”. Wobei letztere von Anfang an darauf ausgelegt wurde, die Welt zu öffnen. Für ein Spiel von Legend Entertainment ist die Story, die im Handbuch ausgebreitet wird, recht kurz gehalten:
Acht Jahre nach dem Ende der Strider-Kriege nahm die Erde ihre Expansion in den Weltraum wieder auf. Die Zentralregierung wurde schwächer und die Macht ging an die Großkonzerne über, die die Erforschung und Ausbeutung neuer Planeten finanzierten. Jedes dieser Unternehmen unterhielt eine private Truppe von Söldnern, um seinen Willen durchzusetzen, und das Recht wurde größtenteils zu einer Frage des “Macht verleiht Recht”.
In Unreal II – The Awakening sind Sie John Dalton, ein Marschal der Terranischen Kolonialbehörde. Die TCA ist eine unterbesetzte Polizeitruppe, die in den äußeren Bereichen des Weltraums patrouilliert. Ihre Aufgabe ähnelt der eines Marschals im Wilden Westen – sie sind der einzige Vertreter der staatlichen Ordnung und haben die Aufgabe, den Frieden in einem riesigen und unkontrollierbaren Gebiet zu wahren.
Natürlich bleibt es nicht bei Patrouillen-Flügen. Aber die Marschrichtung wird in diesen wenigen Zeilen schon klar: Es gibt mehrere Welten, mehrere Fraktionen und einen neuen Helden. Denn wie es auf der deutschen Verpackung so unnachahmlich heißt: “Nur Sie können das Awakening verhindern.”
Die Legend-Besatzung
Mit Return to Na Pali und The Wheel of Time hatte Legend ein mittlerweile erfahrenes Unreal Engine-Team aufgebaut, das auch Unreal 2 stemmen sollte. Paul Mock übernahm als Art Director und im Leveldesign-Bereich konnte Verdu auf das Stammteam setzen, das sich bei Wheel of Time langsam gefunden hatte: Scott Dalton, Matthias Worch, James Parkman und Grayson Edge. Künstlerischer Neuzugang war Dawid Michalczyk, von dem ihr einige Werke auf der Seite Artstation bewundern könnt. Seine Einflüsse zeigen sich vor allem bei den Fahrzeugen und Gebäuden. Anthony Pereira leistete als Konzeptkünstler hervorragende Arbeit und visualisierte alles, was nicht bei Drei auf den Bäumen war.
Dennoch war die Arbeit parallel zur Entwicklung der nächsten Engine-Iteration nicht einfach. Ständig tauchten neue Unstimmigkeiten auf, weil Features doch oder noch nicht so funktionierten, wie sie es eigentlich sollten. Niemand bei Legend wusste, ob die angedachten (und in Interviews bereits angekündigten) Elemente am Ende im Spiel sein würden oder ob die Arbeit daran verlorene Zeit war. Glen Dahlgren schreibt dazu in seinem Blog:
Der hohe Bekanntheitsgrad des Projekts führte zu einer sehr frühen Pressearbeit. Diese Interviews gingen auf Features ein, die wir zu diesem Zeitpunkt nicht hätten preisgeben dürfen, darunter Fraktionen, die der Spieler unterstützen oder gegen die er arbeiten konnte (was das Ende beeinflussen würde), dynamische Gespräche, mobile Verteidigungsanlagen, fahrbare Fahrzeuge und einen Mehrspielermodus…
Die ständigen Verzögerungen aufgrund der parallelen Engine- und Spielentwicklung untergruben Stück für Stück die Motivation. Mike Verdu wollte sich aus der Entwicklung etwas zurückziehen und bat Glen Dahlgren, die weitere Produktion zu überwachen. Glen stimmte unter der Bedingung zu, dass er sich aus den Bereichen Design und Grafik raushalten werde. Die ursprüngliche Vision stammte von Mike und Glen wollte nicht in die Situation kommen, diese zu verwässern. Außerdem war ihm klar, dass er mitten in der Produktion nicht plötzlich anfangen konnte, mit den jeweiligen Leitern der Abteilungen Diskussionen über die künstlerische Ausrichtung zu führen. Es gab innerhalb des Teams sowieso schon Spannungen, weil die Konzeptzeichner sauer auf die Level-Designer waren. Diese veränderten die Grafiken natürlich nach ihrem Gutdünken, um sie in die angedachte Level-Struktur zu packen – was teilweise stark von den ursprünglichen Entwürfen abwich. Dahlgren wollte hier nicht als relativ neu eingestiegenes Mitglied noch Öl ins Feuer gießen.
Diener zweier Herren
Ein zusätzliches Problem während der Produktion war die Firmenkonstellation zwischen Infogrames und Epic. Denn Letztere hatte sich vertraglich zusichern lassen, bei jedem Detail die letzte Instanz zu sein. Aus ihrer Sicht natürlich eine weise Entscheidung: Schließlich sollte Unreal 2 als Nachfolger ihres erfolgreichen Shooters auch gleichzeitig das Flaggschiff für die Vermarktung ihrer Engine werden. Infogrames wiederum wollte das Spiel einfach fertig und in die Regale der Händler geliefert bekommen. Schließlich zahlten sie für jeden einzelnen Tag der Entwicklung.
Die Schere wurde angesetzt – und die weiter oben angesprochenen, viel zu früh verkündeten Features wurden fast alle gestrichen. Vor allem aber fiel der Multiplayer-Modus den Kürzungen zu Opfer, da er überraschenderweise die größten technischen Schwierigkeiten hatte. Unreal 2 war damit das erste (und einzige) Spiel des Franchises ohne Mehrspieler-Ballereien. Vermutlich war Epic nur damit einverstanden, weil parallel die Unreal Tournament-Reihe den MP-Bereich bereits abdeckte. Dahlgren verteidigte diesen Cut in einem Interview mit BeyondUnreal:
Es hängt immer davon ab, welchen Hut ich gerade trage. Als Designer wäre es schön gewesen, das zu machen, aber als Projektleiter war es die einzige richtige Entscheidung. Das Unreal-Franchise war zu diesem Zeitpunkt schon aufgestellt: Unreal Tournament war ihr Hardcore-Multiplayer-Franchise, Unreal war ihre Einzelspieler-Reihe zum Geschichtenerzählen. Warum also gegeneinander antreten? Aus der Sicht eines Projektleiters war ich sehr froh, mich auf das konzentrieren zu können, was dieses Spiel gut machen wollte. Bei WoT haben wir wirklich versucht, zwei Spiele zu entwickeln, Einzelspieler und Mehrspieler, wie jedes andere Spiel dieser Richtung damals. Es wäre schön gewesen, sich auf eines dieser beiden Dinge konzentrieren zu können.
Mike Verdu zog sich noch weiter aus dem Projekt zurück und Glen Dahlgren war nun in der Position, in der er nie sein wollte: Er musste die bisher vorhandenen Teile sichten, Kürzungen vornehmen und neue Elemente einfügen, um ein Spiel daraus zu machen.
Ich bin ein Erzähler. In “Wheel of Time” habe ich alles geskriptet, bevor meine Level-Designer unsere Level erstellt haben. Ich habe die Dialoge geschrieben und die Rätsel entworfen… Als ich mir die U2-Level ansah, wurde mir klar, dass sie diese Aufmerksamkeit noch brauchten. Also habe ich von hinten nach vorne gearbeitet. Anstatt das Erlebnis zu entwerfen und die Level darauf aufzubauen, habe ich die Umgebungen, die ich hatte, genutzt und sie mit Gründen gefüllt, um in den Leveln voranzukommen zu wollen: interessanten Erzählungen, Missionszielen, Rätseln und filmischen Momenten.
Einer dieser filmischen Momente lehnt sich bewusst stark an die berühmte Szene des ersten Unreal-Spiels an, in der erstmals ein Skaarj auftaucht: Stück für Stück gehen in einem langen, engen Gang die Lichter aus, ein Knurren ertönt und plötzlich werden wir angegriffen. Nur im Kugelhagel können wir kurz unseren Gegner erkennen und lernen direkt, die riesige Gestalt zu fürchten. Natürlich gab es keine Möglichkeit, diesen ersten Moment ein zweites Mal zu erschaffen, aber die ähnlich aufgebaute Aufzug-Szene im ersten Unreal 2-Level sorgt bei neuen Spielern für einen Adrenalin-Schub und bei Kennern des ersten Teils für eine der wenigen Verbindungen zwischen den beiden Spielen. Denn bis auf ein paar Namen und Gegner ist Unreal 2 ein eigenständiges Spiel.
Schließlich verließ Mike Verdu Legend Entertainment komplett. Bob Bates übernahm die Aufgabe, den Figuren Hintergrund-Geschichten zu verleihen und schrieb viele der Dialoge. Ein Krisentreffen zwischen Infogrames, Epic und Legend führte dazu, dass selbst der Engine-Lieferant einem Zeitplan bis zur Veröffentlichung zustimmte. Das Spiel war auf der Zielgeraden. Zu welchem Zeitpunkt die Kampagne von geplanten 20-25 Stunden, die Mike in einem Interview angegeben hatte, auf ungefähr 10 Stunden gekürzt wurde, ist leider nicht bekannt – aber sehr viel Arbeit von sehr vielen Leuten blieb ungenutzt auf der Strecke, hätte aber natürlich für ein mögliches Addon wieder verwendet werden können. Eine wunderbare Übersicht über die geschnittenen Inhalte liefert die Seite unreal.fandom.com. Unter anderem fielen drei Alien-Rassen und mindestens sieben Karten unter den Tisch. Erhalten blieb dagegen das von Anfang an eingeplante Raumschiff unseres Helden, das für einen Shooter eher ungewöhnlich war.
We all live in a grey spaceship
Dies wird schon vor der ersten Mission deutlich. Denn Unreal 2 bietet uns mit unserem Raumschiff, der Atlantis, einen Hub-Bereich, in dem wir mit unseren Crewmitgliedern plaudern und für die nächste Mission gebrieft werden. Im Grunde wie bei Wing Commander – nur in frei begehbarem 3D. Neben der Brücke mit unserem zu Beginn des Spiels neuen Navigator Ne’Ban gibt es im oberen Stockwerk die Quartiere der Crewmitglieder. Ab und zu sammelt John Denver auch Souvenirs (und einmal auch ein Haustier), die hier ausgestellt werden. Im unteren Deck befinden sich die Waffenkammer und der Briefing Room. Isaak, unser Waffenspezialist, erzählt uns gerne lang und breit von den Vorteilen und den Schuss-Modi der einzelnen Waffen. Macht er das gerade nicht, stichelt er vermutlich gerade gegen Aida, das dritte Besatzungsmitglied. Die beiden sind einander nicht grün – und im Laufe des Spiels erfahren wir über die Gespräche auch langsam, was denn das Problem der beiden ist. Aida wiederum ist erster Offizier an Bord der Atlantis, brieft uns und hält während der Missionen per Funk Kontakt mit uns.
Aida ist optisch ein Ausreißer. Der Großteil des Spiels ist darum bemüht, sich militärisch zu geben und mit dicken Rüstungen zu prahlen. Selbst die später auftauchenden Liandri Angels – von Geburt an ausgebildete Kriegerinnen – tragen Ganzkörper-Rüstung. Okay: figurbetonte Rüstung – aber immerhin. Aida dagegen stolziert trotz ihres militärischen Hintergrunds in engen Lederklamotten und mit knappem Top durch das Schiff. Alles an dieser Figur schreit in Neon-Buchstaben: Über mich sollen und werden die Journalisten berichten! Ich werde auf Zeitschriften-Covern landen! Was schade ist, weil ihre erdachte Vita und die Dialoge gut geschrieben sind. So findet sich in ihrem Quartier auch ein 3D-Schachbrett, da sie schon als Kind überragende geistige Fähigkeiten gezeigt hat.
Wie spielt es sich?
Schon das Intro macht klar, dass wir nicht unbedingt mit einem 08/15-Shooter zu rechnen haben. Denn statt einer Erzählung, die uns in die Handlung einführen würde, bekommen wir grafische Elemente, gute Musik und die Firmen-Logos vorgesetzt. Glen Dahlgren hatte zwar eine “richtige” Einführung geplant, die aber aus Kostengründen nicht produziert wurde – und stattdessen gab es dann eben diese zwar schick gemachte, aber doch auch langweilige Lösung. Immerhin entschädigt das Spiel direkt danach mit einem schicken Flug über die Landschaft, bis wir am Fenster einer militärisch aussehenden Einrichtung hängen bleiben. Und hier übernehmen wir unseren Charakter, John Dalton. Ja, einer der Game-Designer (Scott), trägt den gleichen Nachnamen. Angeblich sollte der Name irgendwann während der Entwicklung wieder aus dem Spiel fliegen, aber er funktionierte gut und blieb dann doch kleben.
Unser John Dalton ist in seiner Rolle als Weltraum-Marshal nicht glücklich. Er wünscht sich seine Wiederaufnahme bei den Marines, weil er nicht mehr am Rande der Galaxis Routine-Aufträge erledigen möchte. Er braucht Action – und wie das so ist mit den Wünschen, bei denen man vorsichtig sein soll: Die bekommt er. Ein Notruf lockt ihn und seine Crew auf den Planeten Sanctuary, auf dem die bereits aus Unreal Tournament bekannte Liandri Mining Corporation ein Alien-Artefakt gefunden hat. Dieses hat ihnen leider kein Glück gebracht, stattdessen fielen Außerirdische ein und töteten fast alle Arbeiter. Dalton landet mit einem kleinen Shuttle und sieht sich um. Seine Gebete wurden wohl leider erhört…
Bereits im diesem ersten Level lässt Unreal 2 seine Grafik-Muskeln spielen. Die Weitsicht in den Außenbereichen ist beeindruckend und auch die Innen-Level sind schön gestaltet. Wobei von Anfang an deutlich wird, dass selbst in größeren Arealen der Weg immer vorgezeichnet ist. Sei es durch Dialoge, Wegweiser oder NPCs, die voraus eilen. Das stört aber nicht. Sieht man von der Atlantis ab, ist Unreal 2 für mich als unerfahrener Shooter-Spieler ein stimmungsvolles Spiel, das dank seiner Inszenierung nicht zu einer reinen Ballerbude verkommt. Mir gefallen die vielen kleinen geskripteten Sequenzen und vor allem die Soundkulisse hervorragend. Ich nehme aber an, dass einem genre-erfahrenen Spieler im Laufe der Handlung zu wenig Action geboten wird. Jedenfalls wurde Unreal 2 bei seiner Veröffentlichung von der Presse und den Spielern hervorragend angenommen. Erst im Laufe der Zeit wurden dem Spiel die kurze Spielzeit und der Hubbereich stärker angekreidet. Matthias Worch sieht es im Abstand der Jahre so:
Das Problem bei all dieser technischen und visuellen Neuerungen? Es war sehr leicht, sich in den Details zu verlieren und das große Ganze nicht zu sehen. Und ich denke, wenn man Unreal 2 etwas vorwerfen kann, dann die Tatsache, dass alle großartigen Teile, die das Spiel ausmachen – Grafik, KI, Story, XMP-Gameplay – nicht zu einem zusammenhängenden und fesselnden Einzelspieler-Erfahrung zusammengefügt wurden.
Als kleines Schmankerl hatte sich Infogrames übrigens dafür entschieden, den guten Namen der Marke für ein finanzielles Experiment zu nutzen. Unreal 2 – The Awakening wurde 10 Dollar teurer angeboten als damals üblich. Wie sich das auf die Verkaufszahlen ausgewirkt hat, werden wir natürlich nicht nachvollziehen können. Auf jeden Fall war es neben Enter the Matrix und Neverwinter Nights eines der drei Spiele, die in Deutschland 2003 mehr als 100.000 Exemplare absetzen konnten. Apropos Deutschland: Die hierzulande erschienene Fassung hat eine eigene Sprachausgabe bekommen, die aber nicht besonders gut bei den Käufern ankam – aber mit heutigen Ohren auch nicht schlecht ist. Zusätzlich wurden natürlich wieder Bluteffekte und einige andere Elemente aus dem Spiel entfernt. Vielleicht am putzigsten sind die langen Spieße, um die herum in der Original-Fassung Totenköpfe liegen und auf denen ein frischer Kopf thront. In der deutschen Version steht da einfach nur eine Stange funktionslos in der Gegend herum. Eine vollständige, aber relativ kurze, Auflistung der Änderungen findet ihr bei Schnittberichte.com
Der Test vom Schützenfest
Multiplayer
Parallel zu Unreal 2 hatte Legend Entertainment kein weiteres Projekt in der Entwicklung. Sicher, es gab verschiedene Ideen, aber keine davon wurde weiter verfolgt beziehungsweise war Infogrames von keinem dieser Vorschläge begeistert. Glen Dahlgren selbst hatte zwei Entwürfe zu zwei Spielen namens Endgame und Deadline, über die aber leider nichts bekannt ist und über die er selbst leider auch nichts hat verlauten lassen. Und da niemand etwas anderes verlauten ließ, machte sich Legend an den fallen gelassenen Multiplayer-Modus. Allerdings ging das Team von Anfang an davon aus, dass Infogrames irgendwann den Entwicklungs-Stecker ziehen könnte, weshalb die Software von Anfang an darauf ausgelegt war, zu laufen. Sollte der Hammer fallen, hätte das Team ein spielbares Produkt. Es sollte nicht wie bei Wheel of Time oder Unreal 2 erst am Ende der Entwicklung spielbar sein.
Die Erweiterung hört auf den Namen XMP und ist ein teambasierter Shooter: Die aus dem Hauptspiel bekannten Artefakte müssen vom jeweils anderen Team erbeutet werden. Treibstoff für die eigenen Fahrzeuge gibt es nur, wenn die auf der Karte verteilten Generatoren von uns beherrscht werden. Besagte Generatoren sorgen auch für die Energie der Waffen und erweitern die Bewegungsmöglichkeiten der Spieler. Drei Klassen (Ranger, Tech und Gunner) stehen ebenso zur Auswahl wie drei Fahrzeuge. Das Spiel bietet keine Bots, was vermutlich an der knappen Entwicklungsdauer liegt, denn bereits am 9. Dezember 2003 veröffentlichte Legend Entertainment den Download, an dem bis zur Schließung des Studios weiter gearbeitet wurde. Interessant: Auf der offiziellen Seite steht explizit, dass der Download nicht von Atari Tech Support unterstützt wird. Andererseits konnte Legend Infogrames davon überzeugen, eine neue Unreal 2-Version inklusive des Multiplayer-Ablegers zu veröffentlichen. Aber für Legend kam das leider zu spät.
Leveldesigner Matthias Worch verlies die Firma nach der Entwicklung von Unreal 2, hat aber dennoch natürlich auch eine Meinung zu XMP:
Diesmal gab es keine gemischten Gefühle bezüglich des Endprodukts: XMP rockte! Es wurde vielleicht etwas von Unreal Tournament 2004 in den Schatten gestellt, aber allen, die XMP spielten, gefiel es. Es hatte eine ganze Reihe innovativer Multiplayer-Funktionen. Es gab Fahrzeuge, platzierbare Hinternisse, viele neue Taktiken und Gameplay-Momente und es war kostenlos. Dagegen konnte man schlecht etwas sagen!
War die PC Action beim Hauptspiel noch voll des Lobes, so landet der Multiplayer-Nachzügler mit 76 Prozent im abgeschlagenen Mittelfeld: “Ehrlich gesagt habe ich mir von Unreal 2 XMP mehr erwartet. Der Artefakt-Modus ist sicherlich sehr interessant, aber so recht wollte beim Daddeln der Funke nicht überspringen. Unreal 2 XMP spielt sich nämlich beinahe so zäh wie Planetside. Was sich die Entwickler bei den Fahrzeugen gedacht haben, bleibt mir ein Rätsel. Wenn Sie als Fahrer an die Kanone wollen, müssen Sie erst aussteigen. Darunter leidet der Spielfluss.”
Ich will es kaufen!
Nichts von dem, was ich in diesem Artikel vorgestellt habe, gibt es digital zu erwerben. Epic zog in einer größeren Aktion bei 17 älteren Titeln den Unterstützungs-Stecker und entfernte die Spiele im gleichen Zug von ihrer Plattform. Davon betroffen war auch das komplette Unreal-Franchise, das seither nirgendwo legal zu beziehen ist. Außer natürlich per guter alter Packung, die außerdem im Regal auch ganz schick aussieht. Wer es schafft, das Spiel bei sich zum Laufen zu kriegen, kann sich auf der Seite von Matthias Worch auch noch einen der Schere zum Opfer gefallenen Level namens Solaris Base herunter laden. Natürlich bietet er keine Skripte, die eine Story voran treiben würden, aber eine halbe Stunde Spielspaß dürfte trotzdem drin sein.
Closing the doors
Am 16. Januar 2004 schrieb Maarten Goldstein im Forum der Seite Shacknews: “Laut einer E-Mail, die wir gerade von einer glaubwürdigen Branchenquelle erhalten haben, wurde der Wheel of Time- und Unreal 2-Entwickler Legend Entertainment heute von Atari geschlossen. Wenn wir weitere Informationen erhalten, werden wir euch darüber informieren.” Noch am gleichen Tag kommentierte Glen Dahlgren dort:
Auch wir sind sehr traurig darüber, dass dies passiert. Es war für uns alle eine ziemliche Überraschung. Legend hatte viele talentierte Leute und es ist verdammt schade, dass wir nicht zusammen sein werden, um unser nächstes Spiel zu machen. Ich freue mich zu sehen, dass sich die Menschen an unsere Wurzeln erinnern. Ich habe “Gateway I & II” und “Death Gate” lange vor “Wheel of Time” und “Unreal II” entworfen (oder mitgestaltet) und die alten Abenteuer haben einen festen Platz in meinem Herzen. Danke für die Unterstützung.
Atari selbst hatte zu diesem Zeitpunkt öffentlich noch nichts verlautbaren lassen. Gamespot sah diesen Foreneintrag ebenso und versuchte, von Atari ein offizielles Statement zu bekommen. Was sie bekamen, war ein offizielles Hinhalten:
Auf Anfrage von GameSpot wollte ein Atari-Sprecher die Schließung weder bestätigen noch dementieren. “Darüber müssen Sie mit der PR-Abteilung des Unternehmens sprechen”, sagte der Sprecher, der sich anhörte, als würde er körperlich vom Telefon zurückweichen. “Dazu kann ich nichts sagen.” Er gab uns dann die E-Mail der einzigen Person, die dazu Stellung nehmen konnte – einer Führungskraft, die praktischerweise in Ataris New Yorker Büro ansässig war, das wegen des Feiertagswochenendes bereits geschlossen hatte. Allerdings ist es kein gutes Zeichen, dass die Website von Legend am Freitagabend plötzlich offline genommen wurde.
Ein offizielles Statement von Atari habe ich im Netz nicht gefunden. Ich nehme an, dass es noch ein paar bedauernde Zeilen gegeben haben wird, aber Legend Entertainment war ab diesem Zeitpunkt Geschichte. Und auch wenn die an dieser Firma Beteiligten Menschen später noch fantastische Spiele gemacht haben: Für mich werden sie immer Teil von Legend sein. Die Wandlung von einer reinen Textadventure-Firma über die mittlere Phase mit Genre-Mix-Experimenten und den späteren Shootern (plus ein reinrassiges Strategiespiel mit Star Control 3) war rasant, aber immer auf hohem Niveau. Bei keinem der Titel hatte ich das Gefühl, ein typisches Lizenz-Produkt zu spielen. Selbst, wenn mir die Spiele nicht immer gefallen haben, war der Wille zur Qualität immer spürbar. Legend hätte es sich vermutlich so viel einfacher machen können, aber dann wäre es eben nicht Legend gewesen. Und wir wären um viele spannende Spielerfahrungen ärmer.
Am Ende dieser Artikel-Reihe möchte ich mich bei Bob Bates, Mike Verdu und Josh Mandel bedanken, die mir meine vielen Fragen beantwortet haben. Ihre Antworten haben meine Neugierde gestillt und die Artikel besser gemacht. Sie haben in Unterlagen und Gedächtnissen gewühlt und ausführlich korrespondiert. Damit hatte ich im Vorfeld nie gerechnet und bin auch jetzt noch sehr dankbar dafür. Ich werde nie vergessen, dass Bob Bates’ Reaktion auf meinen ersten Artikel “Mein Partner bei Legend hieß übrigens Mike Verdu und nicht Mike Perdu” war. Stundenlang Fehler gesucht und dann so einen Leichtsinns-Vertipper…
Ebenfalls bedanken möchte ich mich bei Oliver Knagge vom Deutschen Videospielmuseum, Christian Schmidt und Andreas Zahrl vom Kautzner Computer-Museum für ihre Packungs-Bilder und natürlich bei euch geduldigen Lesern, die ihr diese lange Reise mit mir unternommen habt. Ich hoffe, ihr habt euch ebenso wenig gelangweilt wie ich.
Teil 2: Bob Bates und die CIA
Teil 3: Frederik Pohl’s Gateway-Reihe
Teil 4: Companions of Xanth
Teil 5: Death Gate
Teil 6: Superhero League of Hoboken
Teil 7: Shannara
Teil 8: Mission Critical
Teil 9: Star Control 3
Teil 10: Callahan’s Crosstime Saloon
Teil 11: John Saul’s Blackstone Chronicles
Teil 12: The Wheel of Time
Teil 13: Unreal 2 und das Drumherum
(Dieser Artikel erschien zuerst am 26. September 2023 auf GamersGlobal)