
Dass es in Englands Schlössern und Burgen spukt, ist Allgemeinwissen. Dass allerdings einer dieser Plagegeister meine alte Freundin Tamara umzubringen versucht, kann ich nicht hinnehmen und besteige den nächsten Flieger Richtung Cornwall. Da Moonmist – erschienen 1986 – ein Textadventure aus dem Hause Infocom ist, befinden sich in der schönen Box Briefe von Tamara, die diese Vorgeschichte aus ihrer Sicht erzählt. Ihre Vorstellung eines britischen Adelslebens fasst sie in den ersten Sätzen schön zusammen:
I’m living in a castle in Cornwall, engaged to marry a British Lord! Now I’ll be able to sit around in drawing rooms making polite conversation and sipping tea. What a life!

Klassische Geschichte: Tamara wollte nach ihrem Auslandssemester in Großbritannien nicht direkt zurück in die USA. Per Anzeige fand sie eine Anstellung als Sekretärin bei Lord Tresyllian auf dessen Schloss – und der Rest ergab sich bei dieser Konstellation ganz natürlich.
So sehr dieser erste Brief nach einem traumhaften Leben klingt, so sehr ist der zweite, ebenfalls beiliegende Brief ein einziger Hilferuf. Denn obwohl Tamara bisher nie an Geister glaubte, kann ihrer Meinung nach nur eine übersinnliche Kraft für die aktuellen Ereignisse im Schloss verantwortlich sein. Und das Wichtigste: Anscheinend trachtet ihr dieser Geist nach dem Leben!
Lords and Ladies
Am Tresyllian Castle angekommen, erwarten mich bereits am Schlosseingang zwei Entscheidungen: Per Dialog werden das Geschlecht der eigenen Figur und ihre Lieblingsfarbe festgelegt. Das ist entscheidend, weil Moonmist vier unterschiedliche Wege zum Ziel anbietet. Je nach gewähltem Farbton gibt es andere Täter, andere Beweisstücke und ein anderes wertvolles Artefakt, das im Schloss versteckt ist.


Für alle Varianten gleich bleibt der Anfang des Spiels: die Ankunft unserer Figur und die Vorstellung der anderen Protagonisten. Lord Jack Tresyllian hat eine illustre Gästeschar versammelt, um seine Verlobung mit Tamara Lynd bekannt zu geben. Neben Butler Bolitho tummeln sich im Schloss genügend andere Verdächtige – ein Gärtner ist nicht darunter, fällt also aus. Beim Abendessen spricht zur Überraschung Aller dann nicht der junge Lord Jack Tresyllian. Stattdessen ertönt die Stimme seines verstorbenen Onkels Lionel, der die Anwesenden zu einer Art Schnitzeljagd auffordert. Das Mysterium ist schnell geklärt, denn die Stimme kam von einem Tonband. Was aber ist mit dem Geist der Weißen Lady, die einerseits schon seit langer Zeit in dem Gemäuer spuken soll, dies aber neuerdings in Gestalt von Jacks verstorbener Ex-Freundin Deirdre tut? Und was ist das für ein Artefakt, von dem Lionel gesprochen hat? Von welcher seiner vielen Expeditionen hat er einen Schatz mitgebracht?
Bis zu dieser Stelle verlaufen alle Spiel-Varianten fast gleich. Bolitho gibt erste Hinweise auf die Identität des Geistes und beim Dinner erhält der Spieler den ersten Schnitzeljagd-Hinweis. Die nun folgende Geschichte spielt natürlich in den gleichen Räumlichkeiten, doch manche Geheimgänge existieren nur in einer Farb-Version, Gegenstände variieren und einige Gespräche verlaufen anders. Trotz der Veränderungen bleibt die zugrunde liegende Struktur immer gleich. Ich folge den Hinweisen, untersuche die Räumlichkeiten und spreche mit den Anwesenden. Wer den ersten Fall gelöst hat, kann die anderen drei daher vergleichsweise einfach knacken. Dennoch ist die Abwechslung groß genug, um sich mit Freude auch durch die anderen Farb-Varianten zu spielen.

Die anfängliche Wahl des Geschlechts wirkt sich hingegen nur minimal auf das Geschehen aus. Auf Frauen reagiert Lord Jack im Stile eines Schürzenjägers, während er Männer mit einem Augenzwinkern und einem oberflächlich freundlichen Lächeln abspeist. Ebenso ändert sich die eingepackte Garderobe. Ein Mann kann nicht im Abendkleid beim Dinner erscheinen, eine Frau nicht im Anzug. Im weiteren Verlauf des Spiels ist das gewählte Geschlecht ansonsten nicht weiter relevant, sorgt aber für eine bessere Identifikation mit der Figur. Es ist sogar möglich, den Geschlechtseintrag auszulassen; das Spiel wird den Spieler dann nur mit dem gewählten Namen ansprechen.
Mort

Nach Seastalker arbeiteten die beiden Infocom-Angestellten Stu Galley und Jim Lawrence erneut zusammen. Galley hatte zuvor ein halbes Jahr an einem Spionagethriller namens Checkpoint gearbeitet, die bisherige Arbeit aber als unzureichend verworfen. Die bisherige Arbeit ist mittlerweile im Netz aufgetaucht und kann problemlos gespielt werden. Oder ihr schaut euch ein 15 Minuten langes Video an, in dem das Spiel samt der gescheiterten Entwicklung kurz vorgestellt wird.
Während sich ihr erstes gemeinsames Spiel an ein jüngeres Publikum richten sollte, gab es diese Vorgabe für Moonmist nicht. Dennoch wirkt es im Vergleich zu den früheren Detektiv-Geschichten Infocoms zahmer. Das Schloss wirkt nostalgie-verklärt, die Figuren bleiben relativ flache Abziehbilder – was innerhalb des Settings aber auch kein Problem ist.
Auch wenn die Prämisse eines Kriminalfalls Anderes vermuten lässt, ist Moonmist ein vergleichsweise einfaches Infocom-Spiel. Es ist der dritte Titel, der als Einsteiger-Adventure konzipiert wurde und das Introductory-Etikett bekam (Seastalker lief kurzfristig unter dem Label „Junior“, das aber in Introductory überführt wurde. Das andere Spiel ist Wishbringer). Dies führt leider auch dazu, dass die Schnitzeljagd durch das Schloss nicht richtig Fahrt gewinnt – wobei man wegen eines Zug- beziehungsweise Zeit-Limits durchaus Schwierigkeiten bekommen kann. Mit ein wenig Nachdenken und der Nutzung der Packungs-Beilagen kommt aber jeder ans Ziel – wobei die vier verschiedenen Stränge hier auf die immer gleiche, holprig-flotte Weise aufgelöst werden.

Textlich ist Moonmist bei weitem nicht so ausladend wie andere Infocom-Titel, obwohl es immer noch genug zu lesen gibt. Vor allem der Mangel an Raumbeschreibungen ist auffällig. Das hat allerdings einen guten Grund, denn diese sind in die beiliegende Broschüre “Visitor’s Guide to Tresyllian Castle” ausgelagert. Wer zum Beispiel „look around“ eingibt, bekommt vom Spiel nur den Namen des Orts und die Mitteilung „It looks even lovelier than it sounds in the tourist brochure“. Ob eher als Kopierschutz gedacht oder wegen des knappen Speicherplatzes: Moonmist zwingt dazu, die Broschüre häufig zur Hand zu nehmen. Dort abgedruckt sind auch Pläne des Schlosses inklusive eines Heckenlabyrinths im Garten, das zum Glück nicht im Spiel implementiert ist. Ebenfalls in der Box sind zwei Briefe von Tamara, das Moonmist-Logo als Aufbügelbild und das Heftchen “Legendary Ghosts of Cornwall”, in dem die White Lady prominent vertreten ist.

Reaper Man

Was bleibt am Ende? Ein hübscher Ausflug aufs englische Land samt weniger Puzzle-Einlagen. Die Entscheidung, anhand der Farbe den Spielverlauf festzulegen, hätte allerdings ruhig erst beim Dinner erfolgen können. Stattdessen sind Sie gezwungen, die immer gleiche Einführung zu spielen. Es empfiehlt sich daher, zwischen den Durchgängen ein wenig Zeit vergehen zu lassen.
Übrigens: Im Source-Code des Spiels sind die Reste zweier weiterer Farb-Wege zu finden: Orange und Violett. Außerdem scheint in einer frühen Version des Spiels die Wahl des Geschlechts eine größere Rolle gespielt zu haben, da die gegebenen Hinweise und teilweise die Orte, auf die sie verweisen, variiert hätten. In den veröffentlichten vier Varianten wurde jeweils einer dieser Hinweise verworfen – für gewöhnlich der mit der ausführlicheren Beschreibung.
Wie in den vier veröffentlichten Varianten gibt erneut der Butler Bolitho erste vage Hinweise auf die Identität des Geists. Hier die orangene Beschreibung, wie sie auf der Seite Adventures Guild zitiert wird:
If I may express an opinion, our ghost must need reading glasses. The hall was ablaze with lights, yet it was bending down, groping blindly for something on the marble floor. And, I might add, it must also be left-handed. You see, Ms. Doe, while bending over, the figure was using its left hand to grope with. I tried it myself, as did other servants, and we agree that such behavior indicates left-handedness.
To be frank, Ms. Doe, I was quite taken aback when I saw the ghost. I’m afraid I just stood there for a moment, gaping at it stupidly. Then when it found whatever it was looking for, it stood up, flashed me a startled glance, and fled into the darkness of the Drawing Room.


Soweit ich sehen kann, ist dies auch die Beschreibung des grünen Falls – außer, dass er im orangenen Fall den gesuchten Gegenstand auch gefunden hat. Der Hinweis, den wir beim Dinner erhalten hätten, wäre „I like a pretty picture meself, but at least I know what’s mine and what’s not.“ gewesen – im violetten Fall übrigens „I lay a wager meself now and again, but at least I use me own money.“
Beide ungenutzten Fälle sind nur fragmentarisch vorhanden. Es fehlen Beschreibungen, Dialoge und Hinweise. So oder so ist der Blick unter die Motorhaube der Entwicklung interessant und ich empfehle die Lektüre des entsprechenden Artikels der Adventures Guild.


Guter Artikel!
Moonmist empfinde ich als das geeignetste Spiel, um mit den Infocom-Textadventures loszulegen. Einziger Hinkefuß ist allerdings das für Textadventures oft übliche Zeitlimit. Wäre das nicht, wäre es noch geeigneter als Einstieg in die wunderbare Welt der Textadventures.
Dass die Raumbeschreibungen in die Broschüre ausgelagert waren, empfand ich gar nicht so schlimm. Durch die Broschüre gibt es ein echt gutes Gefühl für die Locations und man hat quasi nebenher immer den Raum im Blick, ohne jeweils ständig wieder „look“ eingeben zu müssen.
Ich glaube, das war so eine Win-Win-Situation ähnlich wie bei den Goldbox-Spielen: Ja, man konnte so Speicherplatz sparen – denn Text war damals nicht so billig wie heute -, und es gleichzeitig auch als Kopierschutz verwenden.
Ich empfehle übrigens den Interpreter Gargoyle zum Spielen. Der hat für meine Augen ein schöneres Schriftbild als WinFrotz.
Gargoyle? Probiere ich gerne mal aus, danke dir.
Das Zeitlimit mit mich bei Moonmist seltsamerweise nicht gestört, obwohl ich das sonst nicht mag. Aber du hast natürlich recht, dass Spiele ohne so eine Probier-nicht-zu-viel-aus-Bremse spaßiger sind.