In der Liste der beliebtesten Sierra-Adventures taucht Codename: Iceman selten auf. Woran das genau liegt, ist Ermessenssache, doch der hohe Schwierigkeitsgrad gepaart mit U-Boot-Simulations-Elementen dürfte eine Rolle spielen. Wenig erfreuliche Verkaufszahlen führten dazu, dass ein angedachter Nachfolger namens Codename: Phoenix erst gar nicht mehr in Produktion ging und die Serie direkt mit ihrem ersten Teil ad acta gelegt wurde. Wie man auf die Idee kommt, ausgerechnet zu diesem ungeliebten Titel ein kostenloses Fan-Prequel zu machen, ist eine Frage für sich. Doch, um dem Fazit schon mal vorweg zu greifen: Danke, Grayson.
Spaß mit Flaggen
Der Spieler übernimmt im Jahre 1973 die Rolle des zehn Jahre alten JW, der bereits in seinen jungen Jahren ein hohes Maß an Patriotismus an den Tag legt. Dank seines Aufsatzes „Ich wünschte, ich wäre alt genug für die Einberufung“ darf er an einem Schnupper-Camp an Bord eines aktiven Navy-U-Boots teilnehmen. Ein Schritt näher an seinem Traum, ein Offizier zu werden!
Das Spiel beginnt am Anlegeplatz des Schiffs. JW und zwei weitere Kinder lauschen der Rede des Kapitäns und warten ungeduldig darauf, an Bord gehen zu dürfen. Allerdings ist das hier die Navy, da gelten strenge Regeln für so ziemlich alles. Und schon sind wir mitten drin in einem Spiel nach typischer Jim Walls-Art. Dieser Designer arbeitete vor seiner Sierra-Karriere bei de California Highway Patrol. Kein Wunder also, dass er bei Sierra neben Codename: Iceman auch die Police Quest-Serie entworfen hat.
Iceboy steuert sich über die klassischen Icons, die sich am oberen Bildschirmrand verbergen oder auch per rechtem Mausklick durchgeschaltet werden. Hier wird JWs überbordender Patriotismus besonders schön aufgegriffen, da fast jedes Symbol mit der amerikanischen Flagge arbeitet:
Eine Hotspotanzeige gibt es allerdings nicht im Spiel, so dass der Spieler die offensichtlichen und weniger offensichtlichen Orte mit dem Cursor absuchen muss, um voran zu kommen. Wer eine Hilfefunktion sucht, wird ebenfalls nicht fündig – leider gibt es online kein typisches Sierra-Hintbook zum Download. Das wäre ein schönes i-Tüpfelchen.
Warum ich Iceboy als Walls-Spiel sehe? Weil auch hier – vermutlich als humorvolle Hommage – gewisse Gesetzmäßigkeiten beachtet werden müssen. Direkt zu Beginn kommt JW nur dann auf das Schiff, wenn er das Protokoll beachtet und einige Dinge in der richtigen Reihenfolge erledigt. Sollte keine Schwierigkeit darstellen, denn wer käme schon auf die Idee, dem Offizier die Einladung zu überreichen, bevor er vor der Flagge salutiert hat? Eben. Auch im späteren Spielverlauf achtet das Spiel penibel darauf, dass innerhalb eines Abschnitts alles erledigt wird, bevor die nächste Passage beginnt. Das wirkt manchmal etwas gezwungen, allerdings sind die einzelnen Teile kurz genug, um notfalls mit Probieren weiterzukommen. Irgendwann ist dem Protokoll Genüge getan und die drei Kinder sind unter Deck. Das werden aufregende Tage für echte Patrioten!
America the beautiful
Iceboy setzt keine Kenntnisse aus Codename: Iceman voraus. Was allerdings nicht schaden kann, sind Kenntnisse der amerikanischen Geschichte. So hängen in dem erstaunlich großen Quartier von AW großformatige Bilder von Richard Nixon und Spiro Agnew. Ersteren kannte ich natürlich, doch dass Agnew dessen Vizepräsident war und 1973 der Bestechlichkeit und Steuerhinterziehung angeklagt wurde, musste ich der Wikipedia entnehmen. Doch nur mit diesem Wissen ist AWs Weigerung, vor dessen Portrait zu salutieren, witzig:
Du hegst insgeheim ernsthafte Bedenken hinsichtlich Spiro Agnews Unterstützung für den Präsidenten.
Im Bücherregal findet AW das Buch Navigation and Nautical Astronomy von Benjamin Button. Ob es in den USA ein besonders bekanntes Buch ist, kann ich nicht beurteilen – über eBay verkauft wird es jedenfalls häufiger. Dass ich mit solchen Internetsuchen immer weiter in die amerikanische Geschichte eintauchen kann, gefällt mir sehr. Das darf sich das Spiel ruhig auf die Fahne schreiben.
Apropos „Fahne“: Selbstverständlich hat ein Patriot wie AW ein Buch über die amerikanische Flagge im Gepäck. Wie wird sie gehisst, wie wird sie gefaltet, wie wird sie transportiert? Ein Spaß für Groß und Klein! Sektion 4 Absatz (a) liest sich zum Beispiel folgendermaßen:
Die Flagge sollte niemals mit dem blauen Flaggenfeld nach unten gezeigt werden, es sei denn, es handelt sich um ein Signal für eine akute Notlage.
Eine solche falsch herum aufgehängte Flagge ist eine der Aufgaben, die JW lösen muss, bevor er nach einem kleinen Gebet den ersten Tag abschließen kann. Am nächsten Tag wird er endlich lernen, wie sich so ein U-Boot steuern lässt. Das wird ihm sicherlich eines Tages nützlich sein.
Watergate
So humorvoll die reine Begeisterung AWs für das Militär und sein Land präsentiert wird, würde dieser Umstand alleine wohl keine Geschichte tragen. Ein Glück, dass sich an Bord noch ein äußerst verdächtiger Reporter aufhält, der nachts Botschaften an einen gewissen Sasha aufnimmt – der wiederum die Nachrichten an einen Victor weiterleiten soll. Das kann doch nur eine fiese Sache sein. Reporter sind und bleiben in AWs Welt schmierige, fiese Gesellen. Hat ihm sein Papa schließlich so beigebracht. Mr. Sprinkle scheint da ganz in seinem Berufsstand aufzugehen – und unser kindlicher Held hat neben seiner Karriere nun auch noch die Überführung dieses Halunken im Sinn.
Die nächsten Tage bleiben ähnlich unaufgeregt-aufregend: Popkulturelle Anspielungen wie ein übergewichtiger, fauler Kater, der eine gute Comic-Figur abgeben könnte (oder das MAD Magazine 157) und Inventarrätsel halten den Spieler ebenso bei der Stange wie die beiden Handlungsstränge. Mit Pixelsucherei und den gesammelten Gegenständen lässt sich jedes Hindernis nach einer Weile überwinden, so dass das Spielspaßschiff nicht allzu sehr ausgebremst wird und schnell wieder Fahrt aufnimmt.
Fazit
Kidname: Iceboy wurde mit der AGS-Engine programmiert und bietet schön gestaltete Pixel-Optik. Die musikalische Untermalung ist gelungen, allerdings auch schnell eintönig. Höhepunkt des Spiels ist für mich der trockene Humor, der an allen Ecken und Enden aufblitzt. Das Mädchen, das ständig Flöte übt, damit sie mal einen Mann abbekommt, Bibelzitate beim Duschen, alle Arten von falsch gehandhabten Flaggen, ständig ausgepiepste Schimpfwörter… Herrlich. Was mir allerdings bis zuletzt nicht ohne Schwierigkeiten über die Lippen oder die Fingerkuppen geht, ist der Name des Spiels. Von Codename: Kidman über Kidname: Icecode hatte ich alles in diesem Text. Natürlich ist er eine Hommage an das Originalspiel, nur will er mir nicht in den Schädel. Egal, selbst falsch getippte Google-Suchen führten mich schließlich zur itch.io-Seite, auf der das Spiel kostenlos zu finden ist. Viel Spaß.
Schön geschrieben und ich finde das Spiel auch echt unterhaltsam.
Sehe ich fast alles genauso. Sollte man als Sierra Fan gespielt haben.
Mal wieder im Klugscheißermodus:
Allerdings ist Kidname: Iceboy nicht in AGI sondern in AGS programmiert.
Codename:Iceman ist AGI.
Danke Dir. Mit der Engine hast Du natürlich recht. Steht auch so in meinen Notizen – nur das Hirn macht was es will. Ist korrigiert.
Das liest sich super und sieht gut aus. Das Setting mag ich. Und das sogar kostenlos, wow. Wie lang ist denn ungefähr die Spielzeit?
Danke Dir. Mit parallelem Schreiben und Bildschirmfotos machen ist das immer schwierig zu sagen. Zwischen zwei und vier Stunden würde ich sagen. Mindestens drei, wenn du viel ausprobierst.
Super, vielen Dank, das ist so oder so theoretisch eine schaffbare Spielzeit, das merke ich mir vor 🙂
Diese Dithering-EGA-Grafik kriegt mich einfach immer wieder (die Fotos der US-Politiker fallen da leider aus dem Rahmen). Kidname: Iceboy werde ich natürlich auch in den AGS-Highlights-Artikel von diesem Quartal aufnehmen.