Johnny Castaway

Fliegende Toaster, Aquarien, Kaminfeuer oder der Matrix-Code. Alles auf unseren Bildschirmen. Wenn wir die Finger von Maus und Tastatur lassen. Bildschirmschoner waren mal ganz groß in Mode.

Wir hatten ja damals nichts in unserer Kindheit und Jugend. Also gefühlt. Unsere Eltern würden uns da sicher widersprechen, aber was wissen die schon. Unsere schönen Spiele hatten meistens gar keine Verpackung oder gar Anleitung, unsere Rechner immer zu wenig RAM und unsere Monitore mussten ständig genutzt werden, weil sich unbewegte Bilder in die Mattscheibe einbrennen konnten. Wäre vielleicht gar nicht so schlimm, wenn es der Endscreen eines besonders schweren Spiels gewesen wäre. Blöd aber, wenn der Monitor irgendwann mal wieder für etwas anderes genutzt werden sollte. Also boomte – auch wenn wahrscheinlich die wenigsten Nutzer jemals das Problem tatsächlich hatten – für einige Jahre ein ganz eigenes Software-Genre: Der Bildschirmschoner.
 
Natürlich fand auch Sierra-Online-Chef Ken Williams Gefallen an dieser Art von Programmen. In einem Interview mit Adventure Classic Gaming sagte er
 
As a CEO, my favorite game was probably Hoyles Card games. It didn’t cost much to build, and made a fortune. Dynamix had a string of products in this category; Pinball, Johnny Castaway, The Incredible Machine, and others. All BIG money makers.
 
Wir verbinden Sierra ja gerne mit den großen Abenteuer-Reihen, aber die hatten natürlich auch entsprechende Budgets, die erst mal wieder erwirtschaftet werden mussten. Ken liebte – wie wahrscheinlich jeder andere Firmenchef auch – natürlich die Produkte, die mit wenig Einsatz viel Gewinn erzeugten. Eben die BIG Money Makers. Wie das Produkt, um das es in diesem Artikel gehen soll und das Ken in seinem Zitat bereits erwähnt hat: Johnny Castaway. Erschienen 1992 für den PC, fiel es allein schon deshalb aus dem großen und abwechslungsreichen Sierra-Portfolio, weil es kein Spiel war. Noch nicht einmal ein Lern- oder ein Kartenspiel. Nein. Es war – wie gerade schon so raffiniert eingeführt – ein Bildschirmschoner. Aber nicht einfach nur ein beständig vor sich hinplätschernder Wasserfall oder ein paar zufällig auf dem Bildschirm verlegte Rohre. Johnny Castaway erzählte uns tatsächlich eine Geschichte. Bis auf ein paar Grunzlaute ganz ohne Sprache, aber trotzdem verständlich und sehr witzig gemacht.
 
Schon Lale Andersen besang die Südseenacht. Im Hintergrund ein Flugzeug, das Johnny übersieht.

Das Team

Fangen wir aber erst einmal mit dem Team an, das hinter dem Bildschirmschoner steckt. Ken Williams erwähnte ja in seinem Zitat die Firma Dynamics, die in diesem Fall als Publisher agierte. Entwickelt wurde Johnny von der Firma Jeff Tunnell Productions. Besagter Jeff Tunnell gründete Dynamics im Jahre 1984, verließ die Firma sechs Jahre später, um mit JTP neu anzufangen und kam 1995 wieder zurück in den Dynamics-Schoß. Wobei JTP immer auch Teil von Dynamics war. Jeff hatte nach Willy Beamish und Rise of the Dragon nur Lust, sich auf kleinere Projekte zu konzentrieren und begann mit einem kleinen Team unabhängig vom Dynamics-Tagesgeschäft, vor sich hin zu werkeln. Noch heute merkt man Jeff den Stolz auf dieses Team an, wenn er von den Verkaufserfolgen schreibt: Die beiden bestverkauften Dynamics-Titel sind 3D Ultra Pinball und Trophy Bass, die beide von JTP stammen.
 
Das Charakterdesign der Hauptfigur, also von Johnny, steuerte Shawn Bird bei, der ansonsten Grafiken zu Lernprogrammen wie Quarky & Quaysoo’s Turbo Science oder Turbo Learning: Mega Math machte. Mobygames listet als seinen letzten Games-Beitrag das Spiel Drama Queen auf dem Nintendo DS auf. Ansonsten war er bei vielen Dynamics-Titeln mit der Gestaltung und dem Inhalt der Handbücher ausgelastet. Wer nicht mehr wissen sollte, was so ein „Handbuch“ ist, soll bitte ältere Verwandte fragen, die bestimmt gerne mit leuchtenden Augen davon erzählen werden. Shawn jedenfalls erzählte, dass er gebeten wurde, einen Charakter zu entwerfen, der „wettergegerbt, aber liebenswert“ sei. Mehr als diese Hauptfigur entwarf er allerdings nicht. Er ging wieder zurück an seinen Schreibtisch und werkelte ab da an Turbo Science, einem Lernprogramm rund um wissenschaftliche Themen für Kinder. Jeff Tunnell beschreibt die Entwicklung der Figur so, dass er und Shawn von Anfang an auf einer Wellenlänge lagen. Ich hatte das Glück, Jeff über Twitter ein paar Fragen stellen zu dürfen und ganz besonders interessierte mich ein alter Test im PC Mag 03/1993. Dort wird Johnny wie folgt beschrieben: „Sieht verdächtig wie Leisure Suit Larry mit Bart aus“. Das konnte ich nicht nachvollziehen – und Jeff schrieb mir „Ich würde sagen, Larry war so ziemlich die am weitesten entfernte Person, an die wir bei Johnny dachten.“
 
Die bis hierhin wichtigsten Personen haben wir also abgehandelt: Ken Williams, Jeff Tunnell, Shawn Bird. Und dass es um einen Bildschirmschoner geht, habe ich auch schon verraten. Wie aber kam es dazu? Laut Jeff war eines Abends ein Schwung von Dynamics-Leuten recht bierselig unterwegs. Auf dem Weg zwischen zwei Kneipen kamen sie an einer Bushaltestelle vorbei und Jeff meinte, dass er aus allem ein Spiel machen könnte, auch aus einem Ort wie eben einer Bushaltestelle. Es wäre doch klasse, wenn da Figürchen kämen und gingen, mit kleinen Sprechblasen kommunizieren würden, vielleicht mal kämpfen… Jemand aus der Gruppe nahm den Gedanken auf und meinte: „Wie wäre es denn stattdessen mit einem Typen auf einer einsamen Insel?“ Das Gespräch führte erst mal für ein paar Jahre zu nichts, aber Jeff behielt die Idee im Kopf und als Ken Williams bei einem Meeting von ihm seine beste Idee hören wollte, präsentierte er ihm diese lustige selbst ablaufende Geschichte eines Schiffbrüchigen. Kens berühmte Antwort war: „Well, give me your next best idea.“ Die beiden anderen Ideen waren Turbo Science und The Incredible Machine, aber Jeff setzte sich an einen kleinen Prototypen von Johnny Castaway, bei dem Johnny über die Insel lief, auf die Palme kletterte und fischte. Diese Demo zeigte er Ken und der war nun begeistert. Also produzierte Jeff Tunnell Productions plötzlich gleich drei Programme auf einmal.
 
So ein Regentanz kann gefährliche Nebenwirkungen haben

Ah jetzt ja: Eine Insel!

Shawn Bird hatte ja „nur“ die Figur des Johnny geliefert, aber ein Story-Bildschirmschoner konnte natürlich nur von einer Story und entsprechenden Animationen leben. Die Grundidee war ja ganz einfach: Typ lebt auf Insel und möchte da gerne weg. Neben einer größeren, durchgehenden Geschichte gibt es immer wieder einzelne Ereignisse, die in sich abgeschlossen sind. Das Ganze läuft auf dem Bildschirm nahezu nahtlos ab. Was auch daran liegt, dass das Programm die einzelnen Teile clever miteinander verbindet, indem Johnny zu Beispiel gerne hinter der Palme vorbeiläuft und dabei eine Angel holt oder wieder verschwinden lässt. Mehr gibt es auf der Insel auch nicht zu sehen. Gehen wir mal davon aus, dass Johnny ein Mensch mittlerer Größe ist, dann bietet ihm die Insel (mit den Fingern am Bildschirm abgeschätzt) bestenfalls 10 Quadratmeter Platz. Praktisch alles auf dieser Insel ist Sand. Sand, Sand – und eine einzelne Palme in der Mitte. Könnte etwas öde werden, aber Johnny zaubert sich immer wieder Dinge hinter dem Palmenstamm hervor. So liest er mal ein gutes Buch, angelt allen möglichen Kram aus dem Meer, schreibt eine Flaschenpost oder joggt auch mal stilecht im grauen Jogginganzug samt Schweißstirnband über die Insel.

Aber neben diesen Episoden gibt es ja noch den großen Bogen: Denn natürlich möchte Johnny diese öde Insel auch gerne wieder verlassen. Und im Laufe mehrerer Episoden beginnt er, sich ein Floß zusammen zu zimmern. Parallel lernt er noch eine Meerjungfrau kennen, mit der er ein heißes Date hat (und ja, Tisch samt Essen stammen natürlich auch wieder aus diesem mysteriösen Portal hinter der Palme) und die ihm bittere Tränen nachweint, wenn er dann in See sticht. Erreicht er dann die Küste, wird er von einer Frau empfangen, die in einer früheren Sequenz die Flaschenpost gefunden hat. Ende gut alles gut?

Na ja. Kurz darauf sehen wir Johnny, wie er im Büro vor sich hin leidet und auf die Insel zurückwünscht. Ist auch kein Wunder, weil diese Arbeitsplatz-Grafik praktisch komplett grau in grau gehalten ist und das einzig Farbige neben Johnnys Klamotten der Himmel draußen vor dem Fenster ist. Kein Wunder also, dass er mit einem Fallschirm am Ende der Geschichte wieder auf der Insel landet und sein Einsiedlerleben wieder aufnimmt. Wo er natürlich auch wieder anfängt, Ausschau nach einer Möglichkeit zur Flucht zu halten. Aber abgesehen von obiger Geschichte klappt das nie. Obwohl genügend Gelegenheiten in Form von Schiffen oder Flugzeugen vorbeikommen. Ganz so einsam scheint die Gegend also gar nicht zu sein.
 
Johnnys Palm-Spring-Künste werden gleich von Krebsen und Möwen bewertet.
Es gibt noch so unglaublich viele kleine Geschichten, die der Bildschirmschoner ganz ohne richtige Sprache, aber mit wunderschön animierter Grafik und mit Geräuschen erzählt. Aber das würde den Umfang dieses Artikels sprengen. Wer ein wenig im Netz wühlt, findet unter praktisch jedem Video zu diesem Produkt Kommentare von Menschen, die den Schoner damals stundenlang haben laufen lassen, um sich ja nichts entgehen zu lassen. Deshalb gibt es auch Filmchen für jeden Geschmack. Die gerade erwähnte Story ist ebenso im Programm wie Zusammenschnitte von 10 Stunden Länge. 10 Stunden? Aber ja! Weil Johnny neben allerlei Slapstick-Einlagen auch noch clevererweise auf den Kalender reagiert und deshalb an Halloween ein Kürbis die Insel ziert. Oder an Weihnachten ein trommelwirbeltusch Weihnachtsbaum.

Größtenteils spielen diese Utensilien keine Rolle und sind einfach nur eine nette Zierde, aber ein Nutzer im Netz behauptet steif und fest, dass ein Oktopus Kugeln vom Christbaum geklaut habe, bevor er wieder ins Meer verschwunden wäre. Ob das stimmt? Ich weiß es nicht – aber allein die Tatsache, dass ich das für möglich halte, spricht für den Abwechslungsreichtum dieses Programms. Ach, neben Halloween und Weihnachten wird auch noch der St. Patrick’s Day mit vierblättrigem Klee gewürdigt. Auf einer Sandinsel in der Karibik. Nun. Kam wahrscheinlich durch das geheime Portal hinter der Palme herüber geweht. Meistens haben diese Gegenstände wie gesagt keinerlei Auswirkung auf den Rest der Animation – sie sind nette Zierde und mehr nicht. Aber dass überhaupt an so was gedacht wurde, zeigt die Liebe zum Detail.

Jeff Tunnell betont, dass die Kalender-Idee seinem Geist entsprungen sei; wie auch der Wechsel von Tag und Nacht, der natürlich für weitere schöne Grafiken und damit für mehr Abwechslung sorgt. Wie viele einzelne Teilstücke der Bildschirmschoner hat, konnte mir Jeff übrigens nicht sagen. Und im Netz gibt es zwar einige Seiten, auf denen akribisch Buch geführt wird, aber auch dort gibt es Einzel-Sichtungen von Animationen, die man entweder glauben oder für einen modernen Mythos halten kann. Aber grob überschlagen kommen da locker 130 Sachen zusammen. Regentänze, Liliputaner, Piraten, … Das reicht, um immer wieder überrascht zu werden. Eine seit 1996 am Netz befindliche Seite namens Johnny-Castaway.com ist auch heute noch eine schöne Anlaufstelle, um sich ein wenig über all die kleinen Szenen des Programms zu informieren.
 
Angriff der Liliputaner-Armee

Die Technik

Das alles musste natürlich irgendwie auf den Bildschirm kommen. Und dafür federführend  verantwortlich war Sherry Wheeler, die laut Jeff eine ehemalige Disney-Animatorin gewesen sei. Leider habe ich nicht allzu viel über sie im Netz gefunden. Einige auf Ebay gehandelte Skizzen von ihr sind aber wirklich sehenswert. Außerdem scheint sie ihre begabten Finger auch bei den Masters of the Universe mit drin gehabt zu haben. Sherry jedenfalls wohnte eine halbe Autostunde entfernt vom Studio und brachte einmal die Woche einen neuen Stapel Animationen vorbei. Die Technik, um diesen ganzen Schwung überhaupt herstellen zu können, hatte das Team bereits für Willy Beamish entwickelt. Die Animatoren zeichneten die einzelnen Phasen per Hand auf Papier und mussten diese dann Stück für Stück einscannen, um sie dann für die Auflösung 640 auf 480 aufzubereiten. Mühsam, aber das Ergebnis spricht für sich. Wobei natürlich mit heutigen Augen noch ein paar Animationsphasen mehr nicht zu verachten wären. Es wirkt alles schon ein wenig weniger flüssig als wünschenswert.
 
Johnny Castaway erschien 1992 für Windows 3.1 – Ein Betriebssystem, das von Haus aus Bildschirmschoner anbot. Wir reden hier allerdings von so Sachen wie „Flying Windows“ oder der „Starfield Simulation“. Relativ einfachen Programmen, bei denen vor schwarzem Hintergrund ein paar Linien oder Symbole durch die Luft flogen. Bildschirmschoner eben im einfachsten Sinne des Wortes. Es war also laut Jeff wohl nicht ganz so einfach, ein vergleichsweise komplexes Programm wie Johnny Castaway als Bildschirmschoner innerhalb dieses Systems ans Laufen zu bekommen. Diese Aufgabe bekam im Team Richard Rail, der bei so ziemlich jedem Dynamix-Spiel die Finger drin hatte. Wie auch immer er es gemacht hat: Es lief. Und wurde trotz der vielen Animationen und Geräusche auf einer einzelnen 3,5-Zoll-Diskette ausgeliefert.

Johnny war natürlich ein riesiger Sprung weg von den fliegenden Fenstern. Und obwohl es sich hier ja wirklich nur um einen Bildschirmschoner handelt, mit dem man ja nicht spielen kann, sorgen begeisterte Fans bis heute dafür, dass Johnny Castaway auch auf modernen Windows-Rechnern noch läuft. Und schwimmt. Und tanzt. Und liest. Hach, der Glückliche.
 
Wie bei Sierra so üblich, hätte Johnny Castaway auch der Beginn einer langen Reihe sein können. Auf dem Cover prangt über dem eigentlichen Titel nämlich auch „Screen Antics“, was übersetzt so etwas wie „Bildschirm-Streiche“ oder „Bildschirm-Possen“ bedeutet. Darauf angesprochen meinte Jeff, dass bei Sierra immer nach dem Potential für eine Serie gesucht wurde. Aber so erfolgreich Johnny Castaway denn auch war: Spätestens mit dem Kauf der auf Bildschirmschoner spezialisierten Firma After Dark war ein eventueller Nachfolger vom Tisch. Der Titel erschien später noch in einer etwas seltsamen Kollektion namens „Family Fun Pack“. Neben Johnny Castaway waren noch Conquests of the Longbow, Gobliiins und Hoyle Official Book of Games 3 dabei. Wobei Johnny als quasi „kostenlose“ Dreingabe beworben wurde. Ich würde mal wetten, dass von diesen vier Programmen Johnny Castaway am längsten auf den Festplatten dieser Welt verblieb. Weil es einfach immer wieder schön ist, dem armen Kerl auf seiner Insel zuzusehen.

Ursprünglich erschien eine Version dieses Artikels als Podcast bei der Zankstelle. Die Folge ist Teil der dort verankerten Serie Zank Quest, bei der sich die Podcaster unterschiedlichsten Sierra-Spielen widmen. Bedanken möchte ich mich bei Jeff Tunnell und seinen ausführlichen Antworten, die er auf seiner Webseite veröffentlicht hat. Er ist auch auf Twitter (vor mir aus auch „X“) zu finden und teilt dort gerne ab und zu Erinnerungen zu alten Spielen.
 
Ich mach bubu, was machst Du?

(Dieser Artikel erschien zuerst am 11. Dezember 2022 auf GamersGlobal)

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Über Jürgen

Geschichts- und Musik-Liebhaber mit einer Schwäche für viel zu lange Computerspiele. Der Werdegang CPC - Pause - PC und Konsolen sorgt dafür, dass ich noch so viele schöne alten Perlen entdecken darf.

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