And all that could have been
Headfirst hat zunächst große Ambitionen für Dark Corners of the Earth und möchte darin möglichst viele Ansätze und Ideen verwirklichen. Es soll eine Open World bieten und den Spieler mindestens 40 Stunden lang unterhalten. Die Geschichte soll nicht-linear erzählt werden und eine Wahl zwischen unterschiedlichen Charakteren bieten. Und, nicht zuletzt, soll es eine Vier-Spieler-Koop-Option sowie einen Multiplayer-Deathmatch-Modus mit einem großen Waffenarsenal geben. Wenn ihr das fertige Spiel kennt, wisst ihr, wie wenig davon tatsächlich umgesetzt wird.
Als ob das Team mit der Fertigstellung von Dark Corners of the Earth nicht bereits ausgelastet genug wäre, kündigen Headfirst Ende 2002 noch weitere Call of Cthulhu-Spiele an, darunter eine direkte Fortsetzung zu Dark Corners of the Earth namens Destiny’s End. Im darauf folgenden Jahr zieht sich Simon Woodroffe aus dem Projekt zurück, um sich um Destiny’s End zu kümmern. Somit überlässt er Chris Gray die Produzentenrolle. Vor allem durch den Publisher-Wechsel, aber auch durch Rückschläge in der Entwicklung ist Gray nun dafür verantwortlich, mit einer großen Schere die Ambitionen zurecht zu stutzen:
Meine Aufgabe war es, das Spiel zu überarbeiten, zu kürzen und dann alle Details und Dialoge mit dem Rest des Designteams abzustimmen.
Währenddessen macht Gareth Clarke ihrem Publisher Bethesda klar, dass Headfirst keine Kapazitäten für die Playstation 2-Version haben, also wird diese Arbeit ausgelagert:
Ich erinnere mich an ein peinliches Gespräch, als der andere Entwickler anrief und uns Fragen zur Machbarkeit stellte. Sie hatten alles versucht, aber es war klar, dass es nicht funktionieren würde. Der Speicher war nur halb so groß wie der der Xbox, also war die Technik einfach hoffnungslos überfordert.
Selbst die PC-Version hätte laut Clarke beinahe nie das Licht der Welt erblickt:
Ich war praktisch der Einzige, der noch im Haus war, und hatte seit Monaten kein Geld mehr bekommen. Aber wir konnten es nicht ertragen, dass es nach Jahren der Arbeit nicht veröffentlicht wurde.
Hier befinden wir uns schon im Jahr 2006. Das Jahr, in dem für Headfirst die Lichter ausgehen.
Das Ende von Headfirst Productions
Wenn die beiden Adventure-Experten Mike Woodroffe und Sohnemann Simon Ende der 1990er Jahre bei der Gründung von Headfirst Productions geahnt hätten, mit was sie sich in der siebenjährigen Firmengeschichte herumplagen werden müssen und wie die Geschichte dann zu Ende geht, hätten sie sich das Ganze vielleicht noch einmal überlegt. Der Verlust der monetären Unabhängigkeit durch den finanziellen Misserfolg von Floyd war der Grundstein für den Niedergang. Die lange Entwicklungszeit von Simon 3D und vor allem auch von Dark Corners of the Earth, gepaart mit dem zweimaligen Verlust eines Publishers hat die Firma an die äußersten finanziellen Grenzen getrieben.
Dennoch schafft es Headfirst, quasi auf dem Zahnfleisch, im Oktober 2005 endlich die lang erwartete Xbox-Fassung von Dark Corners of the Earth zu veröffentlichen. Doch die Verkaufszahlen sind desaströs: In den ersten Monaten verkauft das Spiel gerade einmal etwas mehr als 5.000 Einheiten. In der Folge gibt es erneute Probleme mit dem Publisher, diesmal sind es finanzielle Streitereien mit Bethesda. Somit gerät Headfirst in eine finanzielle Abwärtsspirale, die sich nicht mehr aufhalten lässt. Um Geld zu beschaffen lizenzieren die Woodroffes ihre wichtigste Marke Simon the Sorcerer an Silverstyle Entertainment und verkaufen ihre Büroräume. Da sie keine Gehälter mehr zahlen können, verabschieden sich die meisten Angestellten in Richtung anderer Studios. Die anderen angekündigten Cthulhu-Projekte werden eingestellt. Die letzten übrig gebliebenen Mitarbeiter, darunter Chris Gray, stellen Anfang 2006 noch pflichtbewusst und ohne Bezahlung die PC-Version fertig, bevor sich Headfirst in den ewigen Schlaf begibt.
Pressespiegel: Dark Corners of the Earth
Trotz der langen Entwicklungszeit wird das Spiel von Bugs geplagt. Heute gilt es in vielen Kreisen nichtsdestotrotz als absoluter Ego-Horror-Klassiker und wird häufig als bestes Cthulhu-Spiel bezeichnet. Und wie sieht das die zeitgenössische Presse?
„Dark Corners of the Earth hätte das Zeug zu einem wirklich spannenden und erwachsenen Horrortrip gehabt. Doch die anfangs noch so meisterhaft aufgebaute Atmosphäre fällt mit fortschreitender Spieldauer immer mehr in sich zusammen, bis das Ganze am Ende zur tumben Ballerorgie gegen ein hirnamputiertes Konsortium aus wenig Furcht erregenden Jägern verkommt.“
Jens Bischoff auf 4players.de (Wertung: 64 %)
„Diese Hotelszene! Wenn ich an die Verfolgungsjagd mit den mutierten Bürgern von Innsmouth denke, bekomme ich jetzt noch eine Gänsehaut. Allerdings stellen sich mir bei der Uralt-Rätselkost in Call of Cthulhu ebenfalls die Härchen auf, von den haarsträubend seltenen Speicherpunkten ganz zu schweigen.“
Gamestar 4/2006 (Wertung: 69 %)
„Stundenlang wird sorgfältig eine Atmosphäre aufgebaut, erst dann verstrickt sich Hauptfigur Walters in pulstreibende Konfrontationen. Ist die Schwelle zur Action überschritten, übertreibt es das Spiel mit dem Schwierigkeitsgrad gern: Einige Szenen sind so intensiv wie schwer.“
Thomas Weiß in der PC Games (Wertung: 73 %)
Was wurde aus Adventure Soft Publishing?
Unbeirrt von allen Irrungen und Wirrungen existiert die Firma Adventure Soft Publishing auch heute noch. Unter www.adventuresoft.com findet ihr die leicht angestaubt wirkende Seite, über die ihr sogar noch physikalische Versionen von Simon the Sorcerer & Co. für eure Sammlung bestellen könnt.
Simon Woodroffe ist der Spielbranche treu geblieben und mittlerweile bei Sega als „Kreativdirektor für Forschung und Entwicklung“ untergekommen. Sein Vater Mike hat sich mit seinen 73 Jahren den Ruhestand redlich verdient und kann auf sein Vermächtnis mehr als stolz sein.
Vermutlich werden die Woodroffes keine Spiele mehr unter dem Namen Adventure Soft erstellen, diese Zeiten sind wohl endgültig vorbei. Es bleibt die Erinnerung an ihre Spiele: Die starke Textadventure-Zeit der 1980er Jahre, die berüchtigten Horror-RPG-Abenteuer Anfang der 1990er, die darauf folgenden Comic-Adventures bishin zum ersten wirklich großen Cthulhu-Computerspiel. Und ihre berühmteste Marke lebt nicht nur in den Handyumsetzungen der ersten beide Teile weiter, sondern bekommt 2024 mit Simon the Sorcerer Origins neues Leben eingehaucht. Hoffen wir, dass die italienischen Smallthing Studios dem großen Namen gerecht werden.
Die Geschichte von Adventure Soft ist damit beendet. Ich hoffe, ihr hattet beim Lesen genauso viel Spaß wie ich beim Recherchieren und Schreiben.
(Dieser Beitrag erschien zuerst am 4. November 2023 auf GamersGlobal)