Die Woodroffes kehren dem Gemetzel den Rücken und widmen sich wieder den Adventures. Bei ihrem ersten Spiel als Adventuresoft schielen sie bewusst über den großen Teich Richtung LucasArts…
Es ist 1992 und Horror Soft ist Geschichte! Und das, obwohl die Elvira-Spiele durchaus finanziell erfolgreich sind. Mike Woodroffe ist auch bereit für einen dritten Teil, aber sein Autoren-Team ist von der Idee nicht so begeistert. Daher verabschieden sie sich gemeinsam von Mord & Totschlag und gründen die Firma Adventuresoft UK Ltd., die auch heute noch als Publisher unter dem Namen “Adventure Soft Publishing” existiert. Einer der Hauptgründe dafür ist Monkey Island 2 – Le Chuck’s Revenge von LucasArts, das kurz vor der Firmengründung erschienen ist. Mike Woodroffe ist zurecht beeindruckt von dem Spiel, das neue Maßstäbe im Adventure-Genre setzt, und sieht die Chance, mit Comedy-Point-and-Click-Adventures den Markt zu erobern. Da passt der Name “Adventuresoft” natürlich deutlich besser als “Horror Soft”.
Simon the Sorcerer
Mit Monkey Island im Hinterkopf überlegen Mike und Co., wie ihr erstes lustiges Adventure aussehen soll. Dabei denken sie wieder an Terry Pratchetts Discworld-Universum, aber wie schon 1985 gelingt es ihnen nicht, an die Lizenz zu kommen. Davon lassen sie sich aber nicht entmutigen, und sie beschließen, eine eigene Welt mit einem lustigen Zauberer zu kreieren, gewürzt mit einer großen Prise britischen Humors. Die Hauptrolle soll dabei ein unverschämter pubertärer zwölfjähriger Möchtegern-Zauberer übernehmen.
Bei der Suche nach einem Namen für den Protagonisten ist schnell klar, dass es irgendetwas mit “…the Sorcerer” sein muss. Mikes Sohn Simon Woodroofe, der sich zu dieser Zeit mitten in seinem Studium von “Künstlichen Intelligenzen (AI)” befindet, bestätigt auch heute noch bei jeder Gelegenheit, dass der Vorname für “..the Sorcerer” nicht auf seinem eigenen Vornamen basiert. Nichtsdestotrotz einigt man sich während einer langen Autofahrt auf “Simon” als Vornamen, weil dieser einfach am besten zu “…the Sorcerer” passt. Im Interview mit Adventure Classic Gaming erzählt Simon Woodroffe, welche Charaktere bei der Erschaffung des vorlauten Beinahe-Zauberers Pate standen:
“Simon ist eine Figur, die sich gewissermaßen entwickelt hat. Er ist ein bisschen wie Blackadder, ein bisschen wie Rincewind, ein bisschen wie Guybrush… Ich denke, Simon soll den inneren Teenager in uns allen darstellen. Er sagt, was er denkt, und ist eine Art Anti-Held für alle Kinder. Die größte Ähnlichkeit zu Rincewind ist übrigens der sarkastische Sinn für Humor. Dass beide Charaktere “hoffnungslose Fälle” als Zauberer sind, ist eher ein Zufall, da Simon ursprünglich als junger Zauberlehrling à la Harry Potter konzipiert war.”
Adventure Classic Gaming
Mike Woodroffe bietet seinem Sohn die Stelle als Gamedesigner und Storywriter für ihr neuestes Adventure-Projekt an. Simon willigt ein und kann sich dann mit diesem “Teilzeitjob” sein weiteres AI-Studium finanzieren. Beim Schreiben der Geschichte lässt er seiner Phantasie freien Lauf: Seinem digitalen Namensvetter fallen an seinem zwölften Geburtstag ein mysteriöses Buch sowie ein unbekannter Hund, der sogleich Chippy getauft wird, in die Hände. Als Simon das Buch kurze Zeit später öffnet, springt Chippy hinein und landet offenbar in einer Paralleldimension, in die Simon seinem neuen Haustier schnurstracks folgt. Dort angekommen, stellt Simon fest, dass er sich in einer Fantasy-Welt voller Magie und seltsamen Wesen befindet. Im Laufe des Spiels wird er zum Zauberlehrling, der den bösen Zauberer Sordid besiegen muss.
Inspiration findet Simon Woodroffe bei bekannten Werken wie Der Herr der Ringe, der Welt aus Dungeons & Dragons oder Grimms Märchen. Allerdings ist seine Fantasy-Welt eher eine Parodie der Vorbilder, ähnlich der bereits erwähnten Scheibenwelt von Pratchett. Sie hebt sich durch viele lustige (und nicht ganz so lustige oder zumindest schlecht gealterte) Sprüche, zumeist aus dem Mund des Protagonisten, vom üblichen Fantasy-Einerlei ab. Zudem wird Simon Woodroffe zur der Zeit stark durch britische Comedy-Serien wie Fawlty Towers oder Red Dwarf sowie durch die Comedy-Truppe Monty Python beeinflusst. Zum Humor des Spiels tragen auch die verrückten Charaktere bei, auf die ihr als Spieler trefft. Unvergessen sind zum Beispiel der Sumpfling, der euch unbedingt mit seiner Sumpfsuppe versorgen möchte, oder die zwei unmotivierten Dämonen, die lieber in der Ecke stehen und rauchen, als Simon hinterherzujagen. Und ähnlich wie Guybrush in Monkey Island nimmt Simon häufig Bezug auf die reale Welt und macht sich beispielsweise über die klischeehafte Verwendung von Märchen lustig.
Für die Steuerung bedient sich das Team ganz offensichtlich am SCUMM-System von Lucas Arts. Nur die zwölf Verben, die sie im linken unteren Bildschirmrand platzieren, ändern sie leicht ab. Daneben findet sich dann Platz für zehn Inventargegenstände, die bei Bedarf mit Pfeilen nach oben und unten gescrollt werden können. Wie praktisch, dass in den Zauberhut von Simon unendlich viele Gegenstände hinein passen.
Darüber befindet sich der Ort für die eigentliche Magie des Spiels: die wunderschönen Pixelhintergründe und die toll animierten Pixelfiguren. Diese entstehen in einem Studio in Newcastle, einige Autostunden nördlich von Birmingham, dem Hauptsitz von Adventuresoft. Der Lead Artist ist Paul Drummond, der von Kevin Preston, Maria Drummond, Jeff Wall, und Karen Pinchin unterstützt wird. Ein eingespieltes Team, das größtenteils auch schon bei Horror Soft zusammengearbeitet hat. Die Art und Weise, wie die Hintergründe entstehen, schaut sich das Grafik-Team ein wenig vom großen Vorbild Monkey Island 2 ab. Während dort allerdings fertige “Gemälde” digitalisiert wurden, werden hier nur handgezeichnete Schwarz-Weiß-Skizzen gescannt und am Computer nachbearbeitet sowie koloriert. Die vielen Animationen stammen hauptsächlich von Kevin Preston.
Für die Programmierung sind wieder einmal Alan Bridgman und Mike Woodroffe zuständig. Die beiden entwickeln das Adventure Graphic Operating System (AGOS) weiter, um ihrem Team die Arbeit zu erleichtern. Diese sollen sich auf das Gameplay und die Geschichte konzentrieren können, ohne sich mit technischen Details herumschlagen zu müssen. Die Musik stammt diesmal nicht von Jezz Woodroffe, der nach Waxworks aus der Spielebranche ausgestiegen ist. Stattdessen steckt hier das Duo “Media Sorcery”, bestehend aus Adam Gilmore und Mark McCloud, dahinter.
Schließlich ist es am 27. September 1993 soweit und Simon the Sorcerer erblickt das Licht der Welt! Zunächst einmal auf Disketten für PCs. In Europa wird es von Adventure Soft Publishing vertrieben, in den USA übernimmt Infocom diese Aufgabe. Die damaligen Systemanforderungen, die man in der Review vom PC Zone-Magazin in der Ausgabe 10/1993 finden kann: Mindestens 640K RAM, eine 286er CPU mit 10 MHz, eine Festplatte mit 10 MB freiem Speicher, eine VGA-Grafikkarte, eine gängige Soundkarte wie Ad-Lib oder Sound-Blaster, eine Maus sowie mindestens DOS 3.2 oder höher. Ja, das waren noch Zeiten. Ebenso nett ist der Abschnitt “Über die Autoren” im englischen Original-Handbuch:
Simon Woodroffe lebt in Birmingham, meistens im Haus seiner Freundin. Zurzeit vermeidet er es, sich vollständig auf sein Studium zu konzentrieren und schreibt stattdessen lieber Computerspiele, hauptsächlich des Geldes wegen. Zu seinen Interessen gehören, immer Recht zu haben, sein Auto zu demolieren und Live-Musik. Er ist sehr stolz darauf, dass er nur ein einziges Mal bei Monopoly besiegt worden ist. Nichts würde ihn glücklicher machen, als für dieses Produkt weltweit Anerkennung zu finden. Er sagt, dass das Schreiben von Computerspielen einfach ist, wenn man die richtigen Eltern hat.
Mike Woodroofe ist ein gescheiterter Immobilienmakler und Vater, aber ein erfolgreicher Geschäftsführer. Er beschäftigt sich mit Computern, solange er zurückdenken kann (normalerweise bis zur letzten Mahlzeit). Seine Hobbys sind von Reichtum träumen und das Bezahlen von demolierten Autos. In seiner idealen Welt würde er auf einem kleinem Boot leben und sich nie sehr viel bewegen. Am liebsten würde er einmal sehen, wie die englische Cricket-Nationalmannschaft von einem löffelschwingenden Verrückten bedrängt wird.
Alan Bridgman ist ein autodidaktischer Computerprogrammierer und technisches Allround-Genie. Er liegt immer richtig, außer wenn er sich irrt – was meist auf einen Fehler im Handbuch zurückzuführen ist. Er behauptet, Bridge spielen zu können, und stürzt sich gerne Berge hinunter, während er sich lange Bretter an seine Füße gebunden hat. Er würde sich gerne für die oben ausgeschriebene Stelle des löffelschwingenden Verrückten bewerben. Was er nicht über Computer weiß, könnte man auf die Rückseite einer sehr kleinen Briefmarke mit einem sehr großen Stift schreiben.
Handbuch von Simon the Sorcerer
Pressespiegel: Simon the Sorcerer (PC Diskette)
“Der 14jährige Simon (benannt nach Mikes Sohn) feiert Geburtstag…”[…]”Ein gelungenes Spiel mit interessanten Rätseln, zündenden Gags und farbenprächtigen, trickfilmreif animierten Grafiken – aber die unverschämten Anleihen bei ‘Monkey Island’ sind halt schon starker Tobak!”
Carsten Borgmeier im PC Joker 10/1993 (via kultboy.com) (Wertung: 83 %)
(Aufmerksame Leser wissen bereits: Simon feiert (laut Handbuch) seinen 12. Geburtstag und ist eben NICHT nach Mikes Sohn benannt worden.) Dass er etwa im weiteren Verlauf seines Tests aus “Sordid”, was übersetzt so etwas wie “fies” oder “gemein” heißen kann, einfach mal “Sorded” macht, was übersetzt gar nichts bedeutet: geschenkt.
“Simon the Sorcerer ist vollkommen geglückt – das reicht wohl als Bewertung. Das Gameplay, die Grafik, die witzigen Texte – ich bin begeistert.”
Vera Brinkmann in der ASM 11/1993 (via kultboy.com) (Wertung: 12 von 12, Mega-Hit)
“Grafik, Gags und Steuerung von Simon the Sorcerer entlocken auch verwöhnten Adventure-Gourmets ein anerkennendes Raunen. Die Story samt märchenhaften Ambiente gewinnt nicht den Originalitäts-Sonderpreis, wurde aber gekonnt mit vielen verrückten Typen besetzt. Die schönen Bilder und schrägen Typen sind es dann auch, die sich als Motivations-Stützpfeiler unentbehrlich machen. Die Puzzles sind nicht übertrieben geistreich und enden oft in ‘Keinen-Gegenstand-übersehen-und-alles-ausprobieren’-Routine.”
Heinrich Lenhardt in der PC Player 11/1993 (via kultboy.com) (Wertung: 75 %)
Klingt gar nicht schlecht. Seine Kollegen aus der Power Play 11/1993 (via kultboy.com) legen da noch einen Prozentpunkt drauf.
Die Amiga-Versionen kommen übrigens trotz der 9 Disketten in den entsprechenden deutschen Amiga-Magazinen mit Wertungen zwischen 85 und 90 Prozent auch sehr gut weg.
Beim Schreiben der Texte hat Simon Woodroffe immer eine bestimmte Stimme für Simon im Hinterkopf. Der nächste logische Schritt ist es nun also, Simon the Sorcerer als eines der ersten Point-and-Click-Adventures überhaupt mit durchgängiger Sprachausgabe zu versehen. Und tatsächlich schafft es Adventuresoft, die gewünschte Stimme für die englische Vertonung des Spiels zu gewinnen. Dabei handelt es sich um den Schauspieler Chris Barrie aus der bereits oben als Inspiration genannten Serie Red Dwarf. In UK ist er zu der Zeit eine große Nummer, hier in Deutschland kennt ihn kaum jemand. Kein Problem, denn für eine professionelle deutsche Synchronisation, mit Erik Borner in der Rolle des Simon, wird die Firma Sunflowers beauftragt. Die Sprachausgabe benötigt allerdings, trotzt Komprimierung, eine Menge Speicherplatz, so dass man sich als Medium für die CD-ROM entscheidet. So erscheint 1994 die CD-Version von Simon the Sorcerer, wahlweise mit einer tollen deutschen oder einer ebenso guten englischen Sprachausgabe.
Pressespiegel: Simon the Sorcerer (PC CD-ROM)
Wie erwartet schrauben die deutschen Magazine ihre Wertung ein wenig nach oben, wenn sie die CD-Version von Simon the Sorcerer testen.
“Selten hat man sich bei der deutschen Umsetzung der Sprachausgabe eines Spieles so viel Mühe gemacht wie hier. Das sitzt jede Pointe, das Timing der Witze ist perfekt und die Stimmen passen wirklich zu den Akteuren. Man merkt, daß man Synchronsprecher genommen hat, die etwas von ihrem Handwerk verstehen, sprich eine schauspielerische Ausbildung genossen haben.”
Peter Schwindt in der PowerPlay 10/1994 (via kultboy.com) (Wertung: 78 %)
“Und tschüs: Die bislang beste Talkie-Version Day of the Tentacle muss den Thron räumen. Auch wenn Sie sich normalerweise zu den LucasArts-Hörigen zählen, sollten Sie diesmal über Ihren eigenen Schatten springen und zugreifen.”
Petra Maueröder in der PC Games 10/1994 (via kultboy.com) (Wertung: 89 %)
Auch die Amiga CD 32-Version mit der englischen Sprachausgabe kommt in den deutschen Amiga-Magazinen gut an.