Buch-Rezension: The Sierra Adventure

2019 startete Shawn Mills auf Kickstarter eine Kampagne. Er benötigte finanzielle Unterstützung, um seinen langgehegten Traum zu erfüllen: Ein Buch über die Geschichte der Firma Sierra On-Line. Denn als er selbst ein solches Werk lesen wollte, war auf dem Buchmarkt nichts zu finden. 634 Unterstützer und 30.908 Australische Dollar später ist dies nun anders.

Der Ruf, der Sierra On-Line – bei allen Unkenrufen über Bildschirm-Tode und Sackgassen – vorauseilt, ist der einer erfolgreichen Software-Schmiede. Umso seltsamer, dass so wenig Literatur über die Firma erschienen ist. Der Wahrheit die Ehre: Bis Corona allerlei Menschen in ihre eigenen vier Wände zwang und sie aus purer Langeweile Bücher schrieben, gab es über fast jede Spiele-Firma zu wenig Literatur. Selbst Ken Williams schrieb seine Erinnerungen an Sierra erst 2020. Als also Shawn Mills sein Buch schrieb, musste er von ganz vorne beginnen.

Auswahl

Die lange und verschlungene Geschichte von Sierra On-Line lässt sich natürlich nicht auf 360 Seiten vollständig erzählen. Vor allem nicht, wenn man wie Mills auf viele Interview-Partner und deren Zitate zugreifen kann. Es gibt also keine Ausflüge in Sierra-zugehörige Firmen wie Dynamics oder Impressions Games. Okay, Dynamics kommt wegen Space Quest 6 doch kurz vor, aber das ist nicht der Punkt. Mills versucht sich an einer stringenten Erzählung von den Anfängen bis 1999 mit der Schließung des internen Entwicklungsstudios. Viele Spiele werden erwähnt, während andere durch das Raster fallen. The Sierra Adventure ist keine vollständige Geschichte, dafür ein äußerst unterhaltsam geschriebenes Buch.

Was es allerdings auch ist: Es ist ein von einem Fan geschriebenes Buch. Shawn Mills hat neben vielen anderen beruflichen Tätigkeiten auch selbst Hand ans Spieldesign gelegt und gemeinsam mit seinem Partner Steven Alexander die Firma Infamous Quests ins Leben gerufen. Dort brachten sie mit Quest for Infamy sowie Order of the Thorne: The King’s Challenge zwei eigene Titel auf den Markt, die von Sierras Spielen inspiriert sind. Zuvor firmierten Sie unter dem Namen Infamous Adventures und veröffentlichten dort Remakes von King’s Quest III und Space Quest II. Diese Information kommt euch bekannt vor? Vermutlich, weil TheLastToKnow dies in seinen umfassenden AGS-Artikeln zu King’s Quest und zu Space Quest schon erwähnt hat. Mills als Fan reißt Misstöne innerhalb der Firma in diesem Buch also eher an als dass er sie ausgeführt, denn The Sierra Adventure möchte in erster Linie Sierra On-Line feiern.

Making Games

Über stressige Spiele-Entwicklungen gibt es natürlich dennoch genügend Seiten zu lesen. Auf der offiziellen Seite des Buchs gibt es einen Auszug aus einem Kapitel über die Produktionsphase von Quest for Glory II, die in eine Phase der Professionalisierung fiel. Plötzlich gab es einzuhaltende Schritte in der Hierarchie. Die bisherigen flachen Strukturen waren nicht mehr haltbar, so dass der neu eingestellte Creative Director Bill Davis die perfekte Zielscheibe für die gestressten Teams war:

Als “subtile” Anspielung auf die Veränderungen bei Sierra wurde die zweite Stadt, die der Held besuchte, Raseir genannt – eine brutale Diktatur und ein Anagramm von “Sierra”. Der Anführer des dortigen Regimes, Khaveen, wurde nach dem Generaldirektor von Sierra, Rick Cavin, benannt, während der Hauptgegner Ad Avis nach Bill Davis benannt wurde. (The Sierra Adventure)

Mills interviewte viele bekannte Sierra-Mitarbeiter. Al Lowe, Mark Crowe, Lori und Corey Cole oder Josh Mandel, der ein Vorwort beisteuerte. Aber auch “die andere Seite” kommt zu Wort: Mit Executive Producer Guruka Singh Khalsa, Creative Director Bill Davis und dem Marketing Director John Williams sind Menschen dabei, deren Erinnerungen nicht schon in hunderten anderer Interviews veröffentlicht wurden. Gerade John Williams – der Bruder von Firmengründer Ken Williams – war von Anfang an dabei und schildert lebendig die Anfangstage.

Ken hatte den Mietvertrag für ein neues Gebäude abgeschlossen, während ich nicht in der Stadt war. Da das Gebäude leer stand, sagte man Ken, dass er sofort einziehen könne. Also zog er mit der ganzen Firma um, hatte jedoch meinen Schreibtisch und meinen Stuhl zurückgelassen. Niemand hatte mich darüber informiert, und als ich aus dem Urlaub zurück zur Arbeit kam, waren mein Schreibtisch und mein Stuhl noch da – aber der Rest des Büros war leer. Da die Telefonleitungen noch nicht vollständig verlegt waren, musste ich in den örtlichen Schnapsladen gehen und mich dort erkundigen, wo alle waren. (John Williams)

Geschichten wie diese finden sich zuhauf in The Sierra Adventure und ergänzen das Bild, das man sich bisher von diesen seltsamen Software-Menschen gemacht hat. Selbst Al Lowe, der bereits viele andere Interviews gegeben hat, scheint für dieses Buch noch einmal ein Stück tiefer in seinen Erinnerungen gegraben zu haben.

Ein gutes Zeichen für ein Buch ist, dass es viel zu schnell zu Ende geht. So auch hier. Auf Seite 306 endet Mills’ Streifzug durch die Firmengeschichte und lässt den Leser mit dem Wunsch nach einem weiteren Band zurück. Aber Moment: Habe ich nicht weiter oben von 360 Seiten fabuliert? Ein Zahlendreher?

Why Sierra matters

Da das Buch per Kickstarter finanziert wurde, konnten sich finanzkräftige Backer nicht nur einen Namenseintrag im Buch leisten. 20 Menschen zahlten 110 Australische Dollar (umgerechnet 67,69 Euro), um selbst Erinnerungen beisteuern zu dürfen. Shawn Mills führte mit ihnen Interviews und schrieb ihre Gedanken nieder, so dass die Fans ab Seite 307 ganz direkt ihrer Zuneigung zu den alten Adventures Ausdruck verleihen dürfen. Als ich diese Seiten zuerst entdeckt habe, war ich enttäuscht. Schließlich wollte ich mehr Mills – und keine Seitenfüller. Aber überrascht habe ich diese gesammelten Erinnerungen aufgesogen und genossen. Schließlich hat man als Sierra-Sympathisant in Deutschland schnell ein Vereinsamungs-Syndrom. Hier dagegen bin ich unter Freunden. Und ich empfehle den Lesern unter euch, es mir gleich zu tun.

Erhältlich ist The Sierra Adventure unter anderem bei Amazon. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels kostet es 23,54 Euro. Bilder sucht ihr übrigens vergeblich darin, eine deutsche Übersetzung ebenso.

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Über Jürgen

Geschichts- und Musik-Liebhaber mit einer Schwäche für viel zu lange Computerspiele. Der Werdegang CPC - Pause - PC und Konsolen sorgt dafür, dass ich noch so viele schöne alten Perlen entdecken darf.

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6 Comments on “Buch-Rezension: The Sierra Adventure”

  1. Die Sierra-Spiele waren zwar irgendwie nie sooooo meins, aber die Rezension des renommierten Schriftstellers macht mir Lust. Allein schon wegen so Sachen wie der Schreibtischanekdote. Für den Preis (wo ist der Affiliate-Link 😉 ) werde ich glaube ich sogar zugreifen. Da trotz Fanbrille Probleme zumindest nicht totgeschwiegen werden, das war ein wichtiger Hinweis.

    1. Affiliate-Links taugen bei Amazon zu gar nichts mehr, fürchte ich. Ich bin einfach froh, wenn ich Lust auf ein gutes Buch machen kann.

      Das Buch beginnt mit der Massenentlassung im Rahmen des Video Game Crashs und bringt auch sonst noch genügend Drama auf die Seiten. Wenn ich im Vergleich die Auslassungen der Legend-Designer so lese, muss Sierra echt kein einfacher Arbeitgeber gewesen sein.

      1. Ja, das mit Affiliate war auch nur ein Scherz 🙂 Wird mir das Buch im lokalen Buchhandel denke ich bestellen. Und dann vllt auch mal schauen, was ich nachhole. Tolle Rezension.

    1. Wie so viele andere Bücher ist das Ding leider nur auf englisch erhältlich. Sollte ich jemals mit meiner englischen Übersetzung des Legend-Buchs fertig werden, kann ich ja Mills mal eine Übersetzung anbieten 😀

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