Buch-Rezension: 50 Years of Text Games

Die frühen Computer waren als Arbeitsgeräte konzipiert. Die Bildschirme sollten Texte und Zahlen darstellen; für alles andere waren die Dinger schlicht zu teuer. Doch die Spiele finden immer einen Weg – und so tauchten schnell erste ernste Ablenkungen auf den Groß- und Firmenrechnern dieser Welt auf. Zum Beispiel Star Trek oder Zork. Bei allen inhaltlichen Unterschieden hatte diese Titel alle eines gemeinsam: Sie basierten auf Text. In seinem Buch 50 Years of Text Games stellt Aaron A. Reed für jedes dieser Jahre ein Spiel genauer vor.

Inhaltsverzeichnis

Look

Zuvor liefert Reed allerdings einen Abriss über die Entstehung der Computerspiele. Die ersten Titel waren interessanterweise gar keine textbasierten Spiele, da sie auf Glühlampen oder Kathodenstrahlbildschirmen basierten, die mit Punkten und Strichen (vereinfacht: Grafiken) besser zurecht kamen als mit dem Versuch, einen Buchstaben zu zeichnen. Über Tic-Tac-Toe und einen Liebesbrief-Generator nähert sich der Autor langsam dem Beginn der textbasierten Spiele. 1963 entwickelte die Lehrerin Mabel Addis das Lernspiel The Sumerian Game, das die Grundzüge der Ökonomie anhand eines alten Stadtstaates vermitteln sollte. Statt reiner Zahlenspielereien verpackte Addis die Daten in eine halbwegs fortlaufende Geschichte, die auch vor Verlusten nicht halt machte. War der Spieler nicht gut genug bei der Versorgung seiner Bevölkerung, starben Menschen. Nicht nur Zahlen, sondern Addis gab ihnen auch eine Geschichte:

NE-SAG’S FAMILY BECAME ILL WITH A FEVER WHILE CUTTING REEDS IN THE MARCH LANDS. I AM SORRY TO REPORT THAT AND FOUR GROWN SONS HAVE DIED. FORTUNATELY THE DISEASE DID NOT SPREAD, BUT ANY LOSS OF FARMERS IS NOT TO BE TAKEN LIGHTLY.

Dieser Text ist auch ein schönes Beispiel dafür, wie Reed Zitate in sein Buch einbaut. Er bemüht sich, der originalen Bildschirm-Ausgabe so nahe wie möglich zu kommen. Da die frühen Rechner nur Großbuchstaben beherrschten, werden die ersten Texte im Buch ebenso dargestellt. Am Rand werden Querverweise oder Zusatz-Infos ausgelagert, während ein dicker schwarzer Balken vor potentiellen Spoilern zu dem jeweiligen Spiel warnt.

Der nächste Schritt der Spiele-Evolution waren Titel, in denen der Nutzer an der Tastatur selbst Texteingaben machen konnte. So schuf das Programm ELIZA die Illusion, dass der Computer mit dem Menschen vor dem Bildschirm eine Unterhaltung führt. Natürlich konnte das Programm stattdessen „nur“ Schlüsselwörter interpretieren, Aussagen des Nutzers in Fragen umformulieren und manchmal auch einfach Füllsätze wie „Please go on“ verwenden. Doch faszinierend dürfte diese Erfahrung dennoch gewesen sein.

Inventory

Jedes Jahrzehnt, das im Buch behandelt wird, skizziert Reed auf einigen einführenden Seiten. Da die Reduzierung auf ein Spiel pro Jahr dazu führt, dass einige Klassiker und auch weniger bekannte Spiele nicht den ihnen gebührenden Platz bekommen, gibt es hier auch einen Rundumschlag an Titeln. Das Jahr 1990 ist im Buch durch LambdaMOO von Pavel Curtis vertreten, doch lohnenswert wären zum Beispiel auch Spellcasting 101: Sorcerers get all the girls, Wonderland oder BatMUD.

Wem LambdaMOO auf den ersten Blick nichts sagt, kann sich in meiner Gegenwart wohl fühlen. Reed hat die Titel offensichtlich nicht danach ausgesucht, was die meisten Leser sicher kennen könnten. Natürlich werden auch zwei Infocom-Adventures (Plundered Hearts und The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy) im Buch behandelt, doch Reed bemüht sich, das ganze weite Spektrum textbasierter Spiele abzubilden. Und dazu gehört eben auch ein Titel wie LambdaMOO, der hier stellvertretend für viele andere MOO-Titel. MOO? Und schon sind wir drin im Kaninchenbau. Diese Abkürzung steht für MUD, object-oriented, MUD wiederum bedeutet Multi-User-Dungeon. Ein MOO ist also eine Online-Community – im Falle von LambdaMOO textbasiert. Pavel Curtis schuf den Code für das Programm und baute als ersten virtuellen Treffpunkt sein eigenes Haus nach. Dabei blieb es allerdings nicht, da jeder Besucher das Spiel auch mit eigenen Ideen erweitern kann. Ein faszinierendes Konzept – und ein tragfähiges noch dazu, denn LambdaMoo läuft bis heute.

Take

Ursprünglich war 50 Years of Text Games eine Sammlung von Blog-Einträgen, die im Abstand von jeweils einer Woche veröffentlicht wurden. Dank einer sehr erfolgreichen Kickstarter-Kampagne mit knapp 6000 Unterstützern konnte Reed mit einem Budget von über 500.000 Dollar eine gedruckte Variante anschieben. Das Buch wurde um die Blog-Artikel herum mit den oben erwähnten Einführungen in die jeweiligen Jahrzehnte und zusätzliche Diagramme und Karten erweitert. Die fest gebundene Kickstarter-Ausgabe wurde mit einem wunderbar schlichten Cover samt geprägter Schrift ausgeliefert, die nachgeschobene Ausgabe für alle Spätgeborenen wie mich kommt mit dem gleichen Cover wie die von mir erworbene Taschenbuch-Variante. So oder so: Mit über 620 prall gefüllten Seiten hat jeder Leser genug Stoff für die nächsten Wochen und Monate. Für Jahre, wenn er sich die einzelnen Titel aufgrund der tiefschürfenden Beschreibung dann auch noch anschauen möchte. Für mich war 50 Years of Text Games einer meiner besten Buchkäufe der letzten Jahre. Ich kann das Buch nur jedem empfehlen, der die Text-Nische liebt.

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Über Jürgen

Geschichts- und Musik-Liebhaber mit einer Schwäche für viel zu lange Computerspiele. Der Werdegang CPC - Pause - PC und Konsolen sorgt dafür, dass ich noch so viele schöne alten Perlen entdecken darf.

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2 Comments on “Buch-Rezension: 50 Years of Text Games”

  1. Ganz toller Artikel. Habe selbst nie wirklich Textspiele gespielt, aber das ist total faszinierend. Serious Game mit Sumerern schon 1963, sehr geil. Das mit den Spoilerbalken finde ich super. Und dass dieses MOO noch läuft, wow. Das rabbid hole lacht mich an.

    1. Es ist ein unglaublich faszinierendes Feld. Bis ich das Buch gelesen habe, war mir das in diesem Umfang aber selbst nicht klar. Toll, was alles mit Text alleine geht.

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