Die „Adventure-Schatzkiste“ ist eine Kolumne unseres Gast-Autoren André Savetier, der uns eine neue Perspektive auf übersehene und/oder unterschätzte Adventure-Spiele aus der weitreichenden Vergangenheit des Genres bieten möchte.
Wir schreiben das Jahr 1889

The Lost Files of Sherlock Holmes: The Case of the Rose Tattoo (auf Deutsch auch: Die ungelösten Fälle von Sherlock Holmes: Das Geheimnis der tätowierten Rose) ist ein Grafikadventure aus dem Jahr 1996, das von Mythos Software entwickelt und von Electronic Arts veröffentlicht worden ist. Es war das zweite und leider auch letzte Holmes-Spiel einer Reihe, deren erster Teil das von Kritikern hochgelobte Case of the Serrated Scalpel aus dem Jahr 1992 gewesen ist.
The Rose Tattoo spielt im London des Jahres 1889. Zu Beginn des Spiels erhält Sherlock Holmes eine Nachricht von seinem Bruder Mycroft, den er und sein treuer Gefährte Doctor John H. Watson im Diogenes-Klub treffen sollen. Dort angekommen, haut sie plötzlich eine starke Explosion im Inneren des Klubs von den Sohlen. Glücklicherweise überstehen Holmes und Watson den Anschlag unbeschadet, im Gegensatz zu Mycroft, der dabei schwer verletzt worden ist. Sherlock ist am Boden zerstört, schließt sich in seinem Zimmer ein und weigert sich, Nachforschungen anzustellen. Angeblich ist die Explosion durch ein Gasleck verursacht worden, aber Watson will das nicht so ganz glauben und beginnt auf eigene Faust mit den Ermittlungen. Watson kann den Meisterdetektiv – allerdings erst, nachdem er einige Hinweise aufgedeckt hat – schließlich davon überzeugen, die Ermittlungen zu leiten, von denen die Explosion lediglich der Anfang ist.

Open-World-Adventure?

The Rose Tattoo ist ein sehr langes und komplexes Spiel. Es ist größtenteils nicht linear, was bedeutet, dass der Spieler wirklich wie ein Detektiv denken muss, um die unzähligen Geheimnisse des Falls aufzudecken. Einige lose Enden können sich auch als Sackgassen herausstellen. Während der Ermittlungen werden immer mehr Orte auf der Karte zugänglich, zwischen denen ihr euch frei bewegen könnt.
Während Watson in den neuen Holmes-Spielen von Frogwares eher nutzlos ist und euch nur im Weg steht oder zu Tode erschreckt, sind die Dialoge in The Rose Tattoo mit eurem Partner unerlässlich. John hat immer einige Kommentare zur Ermittlung und bietet Hinweise, die die Spieler in die richtige Richtung weisen. Im Gegensatz zu vielen anderen Abenteuerspielen liegt der Fokus von The Rose Tattoo viel mehr auf Dialogen, Beobachtung und dem Erkennen kleiner Details als auf dem Lösen von Rätseln. Während des Durchspielens stößt ihr auf einige Minispiele, wie z. B. das Analysieren und Mischen von Substanzen auf Holmes’ Arbeitstisch oder eine Partie Darts im Pub.






Das Spiel sieht außerordentlich gut aus, die Charaktere werden von echten Schauspielern gespielt, die vor einem Bluescreen gefilmt worden sind. Am besten haben mir wahrscheinlich die englischen Voiceovers gefallen. Die Stimmen von Holmes und Watson sind ausgezeichnet und verleihen dem Spiel viel Oberfläche. Für Nicht-Muttersprachler kann es manchmal schwer zu verstehen sein, da die verwendete Sprache ziemlich vornehm und kunstvoll ist, was zu einer Handlung passt, die im späten 19. Jahrhundert angesetzt ist. Es gibt auch eine deutschsprachige Synchronisation, die ganz okay klingt, über die ich aber wenig sagen kann, da ich das Spiel im Original gespielt habe.
Einer der wenigen Nachteile, die ich bei diesem Spiel gefunden habe, ist die Handhabung des Inventars und das insgesamt langsame Tempo. Aber wenn ihr euch erst einmal daran gewöhnt habt und in den Fall verwickelt seid, ist das nicht mehr so wichtig. Außerdem ist The Rose Tattoo sehr wählerisch, was die Untersuchungen angeht, um neue Informationen zu sammeln, klickt also unbedingt auf jeden möglichen Hotspot, vielleicht sogar mehrmals.

Ein sehr verzwickter Fall
The Case of the Rose Tattoo kann nicht in ein paar Stunden durchgespielt werden, es wird Tage oder vielleicht Wochen dauern, bis es zu einem befriedigenden Ende kommt (es sei denn, ihr verwendet eine Komplettlösung – bei diesem Spiel ist es echt keine Schande, eine zu verwenden). Es ist authentisch, schwierig und packend. Mit seinem Tempo, Schwierigkeitsgrad und seiner Nichtlinearität ist dieses Spiel die perfekte Antithese zu vielen zeitgenössischen Spielen, die sich mehr auf die Kosmetik als auf eine gute und solide Handlung konzentrieren.

Fazit
Der zweite Teil der Lost-Files-Serie (die ins Deutsche unglücklich als „ungelöste Fälle“ übersetzt worden sind) ist ein Juwel der Mitt-90er und scheint ein wenig in Vergessenheit geraten zu sein. Im Vergleich zu seinen Mängeln hat das Spiel jedoch so viel mehr zu bieten, was es meiner Meinung nach zu einem der besten Adventure-Games macht, die je geschrieben worden sind.
The Case of the Rose Tattoo ist leider nicht auf Steam oder GOG erhältlich. Es läuft problemlos auf modernen Systemen, da es mit dem wunderbaren ScummVM kompatibel ist.
Ich habe das Spiel bestimmt 10x angefangen und nie durchgespielt. Die Bigbox habe ich noch in meinem PC-Spiele Bigbox-Gedächtnisschrank stehen…
Das Spiel sollte ich mir wohl doch noch einmal vornehmen, der Artikel liest sich gut. Danke André
Danke! Ja, es ist sehr schwierig, da muss sich schon Zeit dafür nehmen. Aber es zahlt sich aus!
Es ist immer spannend, was du so aus deiner Schatzkiste ziehst. Da ich FMV-Adventures noch nie mochte, habe ich das damals ignoriert. Nach der Lektüre deines Artikels würde ich es jetzt gerne nachholen. 🙂
Es ist aber ganz anders als die anderen (eher Film-ähnlichen) FMVs. Also von der Aufmachung schon ein traditionelles 3rd-Person-P’n’C. Das Tüfteln macht auch irrsinnigen Spaß, wenn man sich die Zeit nimmt.
Ich habe damals auch ein bisschen gebraucht, bis ich mich in den neuen Stil des zweiten Lost-Files-Spiels eingefunden habe. Ich mochte halt einfach die Pixel-Optik des ersten Teils so sehr. Der Render-gefilte-Schauspieler-Look erschien mir wie ein Rückschritt.
Aber ich stimme absolut zu: Es ist ein wunderbares Adventure geworden! Also ruhig mal anspielen – vor allem auch, da es ja auch kein FMV-Spiel ist. 🙂
Ich mag beide Spiele ganz gerne, aber das zweite hat einen fixen Platz in meinem Adventure-Herzen. Das erste werde ich übrigens auch irgendwann einmal aus meiner Schatzkiste holen 😉
Ein richtig gutes Spiel. Ich brauchte auch einige Anläufe, weil es wirklich viel Konzentration erfordert. Nur zu schnell vergisst man, etwas zu betrachten und hat so die benötigte Dialogoption nicht. Oft irrte ich umher. Schliesslich aber nahm ich mir viel Zeit – und genau das belohnt das Spiel. Nicht nur spielerisch, sondern auch vom „kulturhistorischen“ Aspekt: Denn dieses Spiel ist nicht bloss ein weiteres Sherlock Holmes-Spiel, es ist DAS Sherlock Holmes-Spiel und darüber hinaus zugleich ein ganzes Kompendium der Kultur und Gesellschaft des späten Viktorianischen Zeitalters. Jeder Alltagsgegenstand, jede Lampe, jede Strassenecke – einfach alles ist so gut mit Beschreibungen versehen, dass man vollends in dieser Welt versinken kann. Man erfährt so viel über diese Zeit und den kulturellen Zustand, dass man quasi nebenbei das Zeitalter kennenlernt. Die Holmes-Stories, die so typische Exponenten und kulturelle Expressionen dieser Viktorianischen Epoche sind, werden dadurch erst recht lebendig. Das Spiel porträtiert diese Welt, die sowohl imperiale Prachtentfaltung als auch unsägliche Armut und Leid, wissenschaftliche Errungenschaften als auch Rückfall in tiefen Irrationalismus, auf sehr beeindruckende Weise. Ein Spiel, dass viel mehr ist, als es auf den ersten Blick vermuten lässt. Ich konnte nie verstehen, dass einige den ersten Teil als „mehr Sherlock Holmes“ empfanden als diesen zweiten.
Alexander, ich könnte dich umarmen für diesen Kommentar. Du sprichst mir aus der Seele! Ich mag alle Holmes-Spiele, weil ich eigentlich alles, was mit Holmes zu tun hat, mag, vor allem die unzähligen Hörspiele. Aber ich habe mich diesem Charakter und dieser Zeit noch nie so nahe gefühlt wie bei diesem Spiel. Da braucht es keine fancy 3D-Grafik. Auch finde ich die Dynamik zwischen Holmes und Watson sehr gut abgebildet, so kleine Sticheleien, und doch so großer Respekt füreinander. Es gibt Spiele, die zwar gut sind, aber man bald darauf wieder vergisst. Doch The Rose Tattoo ist eines, das einem das ganze Leben lang bleibt.
Dazu möchte ich noch sagen, dass die Holmes-Spiele von Frogware, so sehr ich sie auch schätze, den Fehler machen, dass sie die Figur des Watson so darstellen, wie er sich selbst darstellt, also zu einer bloßen Relexionsfigur Holmes‘ degradieren. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass es Watson ist, der die Geschichten erzählt, der sich auch bewusst kleiner (und naiver) konstruiert, um Holmes umso mehr glänzen zu lassen. The Rose Tattoo nimmt Watson hingegen aus dieser Erzählerfunktion heraus und lässt ihn wirklich die zweite Hauptfigur sein.
Das ist ein sehr wichtiger Punkt, den Du hier ansprichst, André! Die Figurendynamik in Rose Tattoo ist einfach perfekt, weil beide Figuren ausgewogen dargestellt werden. Wie Du richtig sagst, ist Watson nicht bloss ein Spiegel für die Genialität von Holmes, sondern der eigentliche Schöpfer von Holmes als literarischer Figur (Watson ist gewissermassen die literarische Figur, die die literarische Figur Holmes literarisiert… verwirrend). Wenn Watson nur als der an sich tolpatschige, nicht wirklich fähige Sidekick behandelt wird, verfehlt man sie vollends und man setzt ihre Bedeutung unstattmässig herab. Oft wird er dazu gemacht, obwohl er in den Geschichten nicht so dargestellt wird. Er ist etwa in derselben Weise wichtig, wie es Platon für die Weitergabe von Sokrates Philosophie war: Wenn wir auch hier nicht genau wissen, was von Platon, was von Sokrates stammt, so ist es etwa dasselbe mit dem Watson/Holmes-Gespann. Oft kritisiert Holmes Watson ja gerade für die literarische Ausgestaltung seiner Fälle. Eine ganz köstliche Weiterführung dieses Gedankens stellt der Film „Without a Clue“ (dt. „Genie und Schnauze“) dar, der zur Abwechslung Holmes als den Stümper und Watson als seinen Schöpfer einführt.
Die Frogware-Spiele mochte ich nie – vielleicht, weil ich sie immer an diesem Spiel hier mass. Sie waren mir zu steif und irgendwie roh. Besonders das Testament des Sherlock Holmes fand ich jedoch geradezu abstossend, weil die literarische Figur vollkommen verzerrt wird und die Handlung einfach absurd ist. Der Nachfolger setzt dann nochmals einen drauf, habe ich gehört. Hingegen mochte ich Crime and Punishments recht gerne, weil es das Format der klassischen Strand Magazine Short-Stories ins Spiel überträgt und ausserdem noch die Balance zwischen einem etwas moderner angehauchten, aber dennoch ganz klassischen Holmes schafft. Im Gegensatz zu den neusten Spielen und Filmen, die ich gar nicht mag.